394 STRICK UND GOLDENES VLIES
ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein großer Herr vom Rhein,
aus dem „Reich“, Klemens Metternich, mit Österreich nicht nur Deutsch-
land, sondern auch Europa führte. Und es war ebenso natürlich gewesen,
daß nach der Revolution von 1848 ein hochfahrender böhmischer Kavalier,
Fürst Felix Schwarzenberg, die alte Monarchie gegen Italiener, Magyaren
und Preußen verteidigte. Andrässy besaß gesunden Menschenverstand,
einen unbefangenen Blick für das Reale in der Politik, Courage und gute
Nerven. Es fehlte ihm nicht an Flair und auch nicht an Intuition. Er
besaß die „Kavaliers-Perspektive‘, die Bismarck von dem Leiter eines
großen Staatswesens verlangte. Aber es fehlte ihm an Gründlichkeit, bis-
weilen auch an Stetigkeit. Er verachtete zu sehr die Kleinarbeit, die Be-
schäftigung, die nie ermattet, die langsam schafft, doch nie zerstört. Er war
ungebildet, und als eine sehr gebildete Dame ihm das vorhielt, protestierte
er: „Ich bin nicht so ungebildet, wie Sie glauben. Ich weiß zum Beispiel sehr
gut, daß der ‚Fiesco‘ von Goethe ist und der ‚Tasso‘ von Schiller.“ Graf
Andrässy hatte sich 1848 an dem Aufstand der Ungarn unter Ludwig
Kossuth beteiligt. Er wurde nach der Niederwerfung der Insurrektion zum
Tode am Galgen verurteilt, und als es ihm gelang, rechtzeitig zu entfliehen,
wurde wenigstens sein Name in Arad an den Galgen geschrieben, an dem
eine größere Anzahl ungarischer Rebellen baumelte. Ich habe aus seinem
eigenen Mund das witzige Diktum gehört, der Kaiser Franz Josef habe ihn
früher an einem hanfenen Strick aufhängen wollen, jetzt aber ihm das
Goldene Vlies umgehängt. Dabei deutete Graf Andrässy auf sein Goldenes
Vlies. Er erzählte oft, vielleicht etwas zu oft, daß ihm, als er nach der
Kapitulation von Vilagos über die türkische Grenze floh, ein österreichischer
Gendarm in den Weg getreten sei. „Ich zog meine Pistole und schoß ihn
über den Haufen, und jetzt bin ich k. und k. Minister des Äußern.“ Andrässy
galt für überaus eitel. Aber seine Eitelkeit war so naiv, daß sie nicht ver-
letzte. Ich erinnere mich, daß, als in einer Gesellschaft die Frau eines
Diplomaten ihre Befriedigung darüber aussprach, daß sie die großen
Männer des Jahrhunderts, Otto Bismarck und Richard Wagner, kennen-
gelernt habe, er nicht ohne Pikiertheit frug: „Und ich? Halten Sie mich
etwa nicht für einen großen Mann?“ In die Rubrik der unschuldigen
Eitelkeit gehörte auch, daß er sich mit fast sechzig Jahren Haar und
Backenbart pechschwarz färbte.
Er hatte bei seiner Ernennung die ausgesprochenen Preußenfeinde aus
dem Ministerium entfernt, die alle aus dem „Reiche“ stammten und fast alle
Konvertiten waren, die Meysenbug und Gagern, die Onno Klopp, Biege-
leben und Blome. Auch der Pole Klaczko mußte gehen, den Beust heran-
gezogen hatte. Er rächte sich durch das giftige Pamphlet „Les deux
Chanceliers“, in dem er die Eifersucht Gortschakows gegen Bismarck