UNRUHE AM BALKAN 395
aufstachelte und Bismarck diffamierte. Die einzige, freilich nicht allzu hohe
Säule, die von der verschwundenen Pracht der Beustschen Ära zeugte, war
der Sektionschef Freiherr von Ilofmann. Er war ein so unverfälschter
Wiener, daß kein Österreicher ihm gram sein konnte. Als echter Wiener war
er ein alter Drahrer, um mich wienerisch auszudrücken. Als alter Drahrer
huldigte er eifrig den Damen. Während ich in Wien an der Botschaft
arbeitete, lag er einer schönen Schauspielerin zu Füßen, Fräulein J. Im
Foyer des Burgtheaters wurde erzählt, daß, als sie ihn endlich erhört hatte,
sie mit niedergeschlagenen Augen und ein wenig komödienhaft zu ihm
sagte: „Ach, wie müssen Sie mich verachten !“ Darauf der alte Sektionschef:
„Und Sie erst mich!“
Am 6. Mai 1876 ermordete in Saloniki der fanatisierte türkische Pöbel
den deutschen und den französischen Konsul. Daß er sich gleichzeitig an
dem Deutschen und dem Franzosen vergriff, trug zur Einigkeit der Mächte
bei. Vom 11. bis zum 13. Mai weilte Kaiser Alexander II. mit Gortschakow
in Berlin, wo um dieselbe Zeit Graf Andrässy aus Wien eintraf. Am Tage
ihrer Abreise wurde in Berlin ein langes Memorandum ausgegeben, das
sich mit den „beunruhigenden“ Nachrichten beschäftigte, die fort und fort
aus der Türkei einliefen, und in dem offen ausgesprochen wurde, daß Ruhe
und Ordnung auf der Balkanhalbinsel nicht vollkommen wiederhergestellt
werden könnten, solange nicht der Herd aller Unruhen mit der Beruhigung
Bosniens und der Herzegowina erstickt würde. Am gleichen Tage hatte
beim Fürsten Bismarck eine Besprechung stattgefunden, an der außer dem
Fürsten Gortschakow und Andrässy mein Vater und Baron Jomini, die
rechte Hand des alten Gortschakow, teilnahmen und zu der die Botschafter
von Frankreich, England und Italien gebeten worden waren. Jomini las das
Memorandum vor, über das die drei Kaisermächte sich geeinigt hatten.
Gortschakow sprach die Hoffnung aus, daß die drei anderen Mächte bald-
möglichst ihre Zustimmung aussprechen möchten, und erklärte als Ziel der
Politik der drei Kaisermächte den „verbesserten Status quo“. Bismarck
betonte mit Wärme die Wichtigkeit der Übereinstimmung und Mitwirkung
von Frankreich, England und Italien, die denn auch am nächsten Tage dem
Memorandum beitraten.
Am 18, Mai hielt Andrässy im Budgetausschuß der Reichsratsdelegation
eine lange Rede, in der er mit erheblichem Optimismus konstatierte, der
europäische Friede sei durch das „Berliner Memorandum“ tatsächlich
gesichert, die Teilnahme von Montenegro und Serbien an der Insurrektion
sei verhindert. Er halte es für seine Pflicht, in erster Linie vor der „weit-
verbreiteten Schwarzseherei‘ zu warnen. Es grassierte also schon damals
jene Schwarzseherei, über die sich viele Jahre später Kaiser Wilhelm II. so
sehr ärgerte, daß er erklärte, er dulde keine Schwarzseher und fordere sie
Das Berliner
Memorandum