396 DIE NICHTINTERVENTION
alle auf, den Staub von ihren Füßen zu schütteln und sein Reich zu ver-
lassen. In dieser Rede von Andrässy kam zweimal die Wendung vor, er
beabsichtige, sich mit den anderen Mächten „von Fall zu Fall“ zu ver-
ständigen, er treibe eine Politik „von Fall zu Fall“. Eine witzige Wiener
Schauspielerin, Fräulein G., übersetzte das ins Französische mit „une
politique de chute en chute“. Sie meinte, sie hoffe, Andrässy würde nicht
so oft „‚fallen‘“, wie sie in ihrem Leben gefallen sei.
Ende Mai entsandten wir ein deutsches Panzergeschwader nach Saloniki.
Abd-ul- Es war, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, das erstemal, daß deut-
Hamid wird sche Panzerschiffe in einer Frage der großen Politik eingesetzt wurden. Im
Sultan Juni wurde der Sultan Abd-ul-Asis entthront und tötete sich bald
nachher mit einer langen Schere, die man ihm freundlicherweise gelassen
hatte. Sein Nachfolger Abd-ul-Murad-Khan war ein so vollkommener
Trottel, daß er nach einigen Wochen durch seinen Bruder Abd-ul-Hamid
ersetzt werden mußte. Der war ein Herrscher, wie sie in den letzten Zeiten
des Byzantinischen Reichs auf dem Thron saßen: Halb schlauer Despot,
halb närrisches Kind, eine originelle Mischung von List und Albernheit,
feige und grausam. Er zitterte vor Verschwörungen und war immer von
solchen bedroht. So hat er es zweiunddreißig Jahre getrieben.
Am 8. Juli 1876 fand im Schlosse Reichstadt eine Begegnung statt
Die Entrevue zwischen dem Kaiser Alexander von Rußland, der den Fürsten Gor-
von Reichstadt tschakow mit sich brachte, und dem Kaiser Franz Josef von Österreich, den
Graf Andrässy begleitete. Das Ergebnis dieser Entrevue sollte von weit-
gehendem Einfluß auf die Geschicke der Welt sein und auch mir in meinem
späteren amtlichen Leben noch ernstlich zu schaffen machen. Offiziös
wurde über die Zusammenkunft zunächst nur verbreitet, daß Rußland und
Österreich über das Prinzip der Nichteinmischung in die augenblicklichen
türkischen Wirren übereinstimmten, sich aber vorbehielten, wenn die
Kriegsereignisse eine Entscheidung herbeigeführt hätten, mit allen christ-
lichen Großmächten ein vertrauliches Einvernehmen herbeizuführen. Von
Wien aus wurde betont, die Begegnung von Reichstadt habe „jede Gefahr“
beseitigt, den Krieg über die bisherigen Grenzen nach Europa getragen zu
sehen. Am Abend der Zusammenkunft in Reichstadt telegraphierte
Andrässy an den damaligen österreichischen Botschafter in London, seinen
Vorgänger Beust: „Teilen Sie als Ergebnis der Reichstadter Begegnung
dort vertraulich mit, daß wir mit Beseitigung aller neueren Vorschläge
übereingekommen sind, an Nichtintervention unter gegenwärtigen Ver-
hältnissen festzuhalten. Erst wenn die Umstände es erfordern und wenn ein
konkreter Fall vorliegen wird, soll ein weiteres vertrauliches Einvernehmen
zwischen allen christlichen Großmächten eingeleitet werden.‘ Beust er-
widerte am nächsten Tage, daß Lord Derby diese Mitteilung mit lebhafter