TRENNUNG 403
Antwort erhielt ich ein Telegramm, worin mich die Fürstin beschwor, ihr
eine mündliche Aussprache zu ermöglichen. Die Unterredung dauerte bis
vier Uhr morgens. Sie war für uns beide sehr schmerzlich. Die Fürstin war
weniger gereizt, als ich gedacht hatte, aber sie weinte und schluchzte
unablässig. „Wenn Frauen weinen“ ist der Titel eines bekannten und recht
hübschen Lustspiels. In diesem Falle aber handelte es sich nicht um eine
Komödie, sondern um ein Trauerspiel. Ich versprach meiner Freundin, ihr
jeden Tag zu schreiben. Aber auch hier war bei aller Willigkeit des Geistes
das Fleisch schwach. Unser Briefwechsel schlief allmählich ein.
Vorgreifend will ich erwähnen, daß mir, als ich im Sommer 1878 zum
Kongreß nach Berlin berufen wurde, die Fürstin Y. schrieb und mich einlud,
sie auf dem Land zu besuchen. Ich ließ diesen Brief unbeantwortet und
habe meine schöne Freundin erst fünfundzwanzig Jahre später wieder-
gesehen. Inzwischen war ihr Lebensschiff gescheitert. Wie dies in der An-
lehnungsbedürftigkeit mancher in nicht glücklicher Ehe lebender Frauen
begründet ist, hatte sie nach der Trennung von mir Trost in einer neuen
Liebe gesucht und die stürmischen Huldigungen eines ritterlichen Jünglings
akzeptiert, der viele gute, schöne und glänzende Eigenschaften besaß, aber
nicht jene für das Leben vielleicht allerwichtigste, die der Franzose „esprit
de conduite‘“ nennt und die von den alten Griechen unrıg genannt wurde.
Gewohnt, immer und überall seinen Willen durchzusetzen, hatte er sie zur
Scheidung von ihrem Gatten gedrängt, mit der festen Absicht, sie sodann
zu heiraten. Als die Scheidung erfolgt war, unternahm er mit ihr in er-
klärlicher Verliebtheit, aber sehr unvorsichtigerweise, eine längere gemein-
same Reise, die Aufsehen machte und Anstoß erregte. Nachdem die Dinge
so weit gediehen waren, blieb zu ihrer Rettung nichts anderes übrig als eine
sofortige Heirat, zu der ihm, gegenüber dem Widerstand seiner Eltern, im
entscheidenden Augenblick die Entschlußkraft fehlte. So erfüllte sich das
tiefe Wort von Honore de Balzac, daß, wenn eine Frau den Eisenbahnzug
der sozialen Konvention verläßt, sie sich meistens den Hals bricht.
Als ich die Fürstin Y. wiedersah, war ich inzwischen Reichskanzler
geworden. Ich verbrachte einen kurzen Urlaub in der italienischen Stadt, in
der sie seit ihrer Scheidung lebte. Ihre Schwester, der ich zufällig bei einem
Spaziergang begegnete, frug mich, ob ich die Fürstin nicht einmal auf-
suchen wollte. Als ich in ihre Wohnung trat, empfand ich wie Faust, der
Gretchen im Kerker besucht: ‚‚Hier wohnt sie, hinter dieser feuchten Mauer,
und ihr Verbrechen war ein guter Wahn.“ Ihre Wohnung war kein Kerker.
Aber wenn ich die zwei kleinen „‚camere mobiliate“ betrachtete, in denen sie
nun schon seit zwanzig Jahren ihr Leben verträumte, so erfaßte mich ein
Schauer. Verwaschene Gardinen, ein abgetretener Teppich, unsaubere
Tapeten, als Schmuck an der Wand ein mäßiges Bild ihres Vaters, das
26°
Ein
Wiedersehen