Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

404 NACH FÜNFUNDZWANZIG JAHREN 
einzige Stück ihrer schönen Einrichtung, das man ihr nach ihrer Scheidung 
gelassen hatte. Ich hatte schon von verschiedenen Seiten gehört, daß sie 
mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen habe, da ihre Berater un- 
besonnenerweise bei ihrer Scheidung keine Apanage für sie ausgemacht 
hätten, ihr geschiedener Gatte sich weigere, eine solche zu zahlen, und ihre 
eigenen Verwandten auch keine Lust hätten, ihr zu Hilfe zu kommen. Die 
sogenannte „gute Gesellschaft‘ der Stadt, in der sie lebte, hatte sich mit 
der Härte und der Heuchelei, die überall der „guten Gesellschaft‘ eigen 
sind, gänzlich von der armen Frau zurückgezogen. Nach dem Skandal, den 
die Begleitumstände ihrer Scheidung hervorgerufen hatten, wünschten 
auch ihre deutschen Verwandten nicht, sie bei sich aufzunehmen. Körperlich 
fand ich die Fürstin Y. nicht allzu sehr verändert. Sie hatte noch immer 
ihre elastische Gestalt, ihre schmalen, weißen Hände und ihre auffallend 
kleinen Füße. Sie hatte noch dieselben in blau und in schwarz schillernden 
und schimmernden Sirenenaugen, die so viele Köpfe verdreht hatten. Aber 
aus ihrem Gesicht sprach statt des früheren harten Stolzes und der alten 
Sicherheit eine Hilflosigkeit, eine Hoffnungslosigkeit, eine dumpfe Ver- 
zweiflung, die mich erschütterten. Sie frug mit ihrer mir wohlbekannten 
Stimme, die mir wie aus einer anderen Welt zu kommen schien: „Wissen 
Sie, daß wir uns fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen haben ? Das ist 
eine lange, eine sehr lange Zeit, ein Vierteljahrhundert. Wo sind Sie heute! 
Und wo bin ich! Wie ist es möglich, daß wir uns nie wiedersahen ? Hatten 
Sie den grünblauen Wolfgangs-See ganz vergessen? Und Ischl? Und das 
Rauschen der Traun? Wir konnten uns doch als gute Freunde wiederfinden.“ 
Es gibt Situationen, wo es das beste ist, wie Nietzsche dies empfiehlt, mit- 
einander zu schweigen. Aber endlich konnte ich unser beiderseitiges 
Schweigen nicht mehr ertragen. „An jedem Abend“, hub ich an, „verlassen 
in Berlin um dieselbe Zeit zwei Schnellzüge denselben Bahnhof. Während 
einer halben Stunde, bis Zehlendorf, fahren sie nebeneinander. Dann 
nimmt der eine Zug die Richtung nach Westen, der andere fährt nach Osten. 
Der Reisende im ersten Zug ist am nächsten Morgen in Köln, der im andern 
Zug ist in Breslau. Am nächsten Abend ist der eine in Paris, der andere in 
Warschau. Am übernächsten Morgen ist der nach Westen fahrende Reisende 
in Biarritz, der nach Osten fahrende in Moskau. Und am dritten Tage ist 
der eine in Madrid, der andere im Ural. Und Ural,und Manzanares sind 
sehr weit voneinander entfernt.‘‘ Das war ziemlich banal. Jedenfalls blieb 
es ohne Wirkung. Sie schwieg weiter. Ich hub noch einmal an: „Wilhelm 
von Humboldt hat schön gesagt, es komme weniger auf das an, was einem 
passiere, als auf die Art und Weise, wie man es trüge.““ Dieses Zitat wirkte 
noch weniger. Ach, die Philosophie hat bekanntlich noch nie eine Träne 
getrocknet. Ihre Schwester, die mich begleitet hatte, machte mir ein
	        
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