406 RENANS IRONIE
Politik der römischen Kurie, die für das Kommende immer eine feine
Witterung gehabt hat, von ihrem früheren aristokratisch-monarchisch-
feudalen Standpunkt zu Verständnis für demokratische Ideen und zu
Anpassung an demokratische Ziele und, wo es ihr nützlich schien, sogar
an republikanische Institutionen führte.
Renan hat vielfach anregend auf mich gewirkt. Ich habe mir durch seine
Bibel-Kritik meinen Glauben an Jesus Christus und sein Wort nicht rauben
lassen, sehe aber in ihm einen jener französischen Prosaisten, deren Lektüre
gerade dem Deutschen zu empfehlen ist. Hier kann er lernen, daß Gründ-
lichkeit nicht Schwerfälligkeit bedeutet, Ernst noch lange nicht Pedanterie.
Hier kann er Ironie lernen, jene höfliche, geschmackvolle, feine Ironie, der
gegenüber wir Deutsche vielleicht deshalb so empfindlich sind, weil wir sie
selbst nicht so recht anzuwenden verstehen. Man vergleiche mit der fein-
geschliffenen Polemik eines Renan die geschmacklosen Grobheiten und
plumpen Gehässigkeiten, die, noch dazu nicht wenig stolz auf unsere
Ehrlichkeit, unseren Freimut und unsere wissenschaftliche Methode,
deutsche Gelehrte dem Gegner an den Kopf zu werfen lieben. Charakte-
ristisch für die Art, in der die Franzosen Feinheit und Geschmack des Stils
bewerten, war, daß sie die Leitung ihrer Propaganda während des Welt-
krieges nicht einem Abgeordneten oder Professor, sondern einem der
glänzendsten Schriftsteller Frankreichs, Marcel Prevost, anvertrauten. Er
war der Verfasser der „Lettres de Femmes“, der „Nouvelles Lettres de
Femmes“, der „Demi-Vierges‘“ und anderer reizender Schriften, die mancher
deutsche Kritiker in die pornographische Literatur einreiht. Nun hat aber
leider die französische Propaganda im Weltkrieg viel stärker und pene-
tranter gewirkt als die vielen, von tiefer Überzeugung getragenen, in
gelehrten Seminaren wissenschaftlich geprüften Bücher, Broschüren und
Zeitungsartikel der Werner Sombart und Hans Delbrück, Haller und
Lasson, Meinecke und Troeltsch, der Breysig und Gebrüder Weber e tutti
quanti, die im Ausland die wenigsten beachtet oder gar gelesen haben.
Außer Taine, Buckle und Renan las ich mit Vorliebe die „Maximes“‘ des
Duc de La Rochefoucauld, die „Pens&es diverses‘ von Montesquieu und die
„Oeuvres choisies‘ von Vauvenargues. Ich ließ sie zusammen binden und
schrieb auf die erste Seite ala Mahnung zwei Worte von Vauvenargues:
„Les gens vains ne peuvent ötre habiles car ils n’ont pas la force de se
taire“‘, und „L’activite porte les hommes a la gloire, les petits talents, la
paresse, le goüt des plaisirs, la vanite les fixent aux petites choses.“
Bei meinen Spaziergängen in der Umgebung von San Remo trug ich
das Kompendium gern in der Tasche. Wenn ich zu der weißen Madonna de
la Costa emporgestiegen war oder zu der Madonna della Guardia auf dem
Capo Verde, von wo aus man bei klarer Luft und gutem Willen als kleinen