410 DER TOD DES PAN
Handelsschiff, das nach Italien fuhr, durch eine Windstille in der Nähe
dieser Insel festgehalten wurde. Es war Abend. Die Passagiere zechten,
lachten und sangen. Plötzlich vernahm man von Paxos her eine Stimme,
die den Steuermann anrief, einen Ägypter, der Thamos hieß. Allgemeine
Verwunderung. Dem biederen Thamos war die Sache nicht geheuer. Er
gab erst auf den dritten Anruf eine zögernde Antwort. Darauf rief eine
heisere Stimme vom Land zum Schiff: „Wenn du an Palodos vorüber-
kommst, so melde dort, daß der große Pan gestorben ist.‘ Alle befiel ein
Schauer. Sie stritten darüber, ob dieser seltsame Auftrag ausgeführt werden
solle oder nicht. Thamos, ein vorsichtiger und gottesfürchtiger Mann,
entschied, daß, wenn der Wind günstig sei, er still an Palodos vorbeifahren
wolle. Sollte aber wieder eine Windstille eintreten, so werde er darin einen
Wink der Götter erblicken und der geheimnisvollen Stimme gehorchen.
Als das Schiff sich Palodos näherte, flaute der Wind von neuem ab. Alle
Segel hingen schlaff. Da rief Thamos vom Hintersteven, so laut er konnte,
zum Lande: „Der große Pan ist tot!“ Sogleich erhob sich ein ge-
waltiges Jammern und Stöhnen, Laute des Erstaunens wurden vernommen,
nicht wie von einem einzelnen, sondern wie von einer großen Volksmenge.
Kaiser Tiberius, nach Tacitus ein übler Tyrann, nach Professor Adolf
Stahr ein vortrefflicher Regent, hörte von dem Vorgang. Er fühlte sich
beunruhigt und berief eine Kommission von Philosophen, die aber, wie die
meisten Kommissionen, unverrichteter Sache auseinanderging. Schon dem
Stiefvater des Tiberius, dem Kaiser Augustus, war die bevorstehende Welt-
wende angekündigt worden. Als nämlich der greise Augustus mit begreif-
licher Wißbegierde die ihm befreundete Sibylle des Kapitols frug, wer sein
Nachfolger sein würde, erwiderte sie: Vom Himmel werde der göttliche
Sohn der Jungfrau kommen, um die Götzenaltäre zu stürzen und sein
Reich in aller Welt aufzurichten. An der Stelle, wo dem Augustus diese
Offenbarung wurde, ließ er einen Altar errichten mit der Inschrift: „Haec
ara filii dei est.‘ Es soll dies nach der Sage der Ursprung einer der ältesten
und merkwürdigsten Kirchen von Rom sein, der Kirche Santa Maria in
Aracoeli, wo in einer Kapelle das „Santo Baınbino“ gezeigt wird, dem zu
Ehren in der Weihnachtszeit Kinder mit der rednerischen Begabung des
italienischen Volkes schwungvolle Lobpredigten halten. Die Idee, Christi
Geburt sei zur Zeit des Kaisers Augustus schon geheimnisvoll angekündigt
worden, beherrschte das Mittelalter. Die Scholastik erblickte in der vierten
Ekloge des Virgil ein Vorzeichen für die Geburt des Erlösers.
Ultima Cumaei venit jam carmicia aetas;
Magnus ab integro saeculorum nascitur ordo.
Jam rediit Virgo; redeunt Saturnia regna;
Jam nova progenies coelo demittur alto.