Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Alexander II. 
und 
Lord Loftus 
414 ZARIGRAD 
Am 2. September 1876 hatte Kaiser Alexander II. in seinem schönen 
Lustschloß Livadia dem englischen Botschafter Lord Loftus eine Audienz 
erteilt. Loftus war früher Botschafter in Berlin gewesen, wo ihn Bismarck 
wegen seines aufgeblasenen Wesens „Lord Pompous“ zu nennen pflegte. 
Der Zar sagte dem Botschafter, er könne es nicht länger mit der Ehre, der 
Würde und dem Interesse Rußlands vereinbaren, sich die „mauvaise foi‘, die 
Ausflüchte und Zurückweisungen der Pforte gefallen zu lassen. Er wünsche 
sehnlichst, sich nicht von dem europäischen Konzern zu trennen, aber der 
jetzige Stand der Dinge sei unerträglich. Sei Europa nicht bereit, mit 
Festigkeit und Tatkraft zu handeln, so müsse er es allein tun. Alexander II. 
hatte sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß in England noch immer 
ein „eingebildeter Argwohn“ gegen die russische Politik und eine beständige 
Furcht vor russischem Vorgehen und Erobern vorhanden sei. Er habe bei 
jeder Gelegenheit feierlich versichert, daß er keine Eroberungen wünsche 
und daß er insbesondere nicht die mindeste Absicht habe und nicht den 
kleinsten Wunsch, Konstantinopel zu besitzen. Alles, was über ein angeb- 
liches Testament Peters des Großen und über die Aspirationen der Kaiserin 
Katharina II. erzählt oder geschrieben würde, sei Täuschung und Hirn- 
gespinst. Solche Absichten hätten niemals wirklich bestanden. Er selbst 
würde die Eroberung Konstantinopels als ein Unglück für Rußland be- 
trachten. Weder bei ihm noch bei seinem Vater sei davon die Rede 
gewesen. Das habe Kaiser Nikolaus im Jahre 1828 bewiesen, als er sein 
siegreiches Heer vier Tagesmärsche vor der türkischen Hauptstadt habe 
haltmachen lassen. Kaiser Alexander II. verpfändete Lord Loftus sein 
„heiliges Ehrenwort“, daß ernicht die Absicht habe, Konstantinopel 
zu erwerben, und daß, wenn die Notwendigkeit ihn zur Besetzung eines 
Teiles der Türkei zwingen sollte, das nur „vorläufig“ sein würde. Was die 
hier und da in England hervortretende Behauptung angehe, Rußland trage 
sich mit dem Plan einer künftigen Eroberung von Indien, so sei sie einfach 
abgeschmackt. Die Eroberung Indiens sei eine Unmöglichkeit. Konstanti- 
nopel zu besitzen, habe er weder den Wunsch noch die Absicht. 
Die letztere, immer wiederholte Versicherung war natürlich cum grano 
'salis zu verstehen. Eine glatte Lüge war sie nicht, auch keine bloße Flun- 
kerei. Schon Kaiser Nikolaus I., der mehr Entschlossenheit besaß als sein 
sentimental angelegter Sohn, hatte an den Rand einer Denkschrift des 
russischen Ministeriums des Äußern, in der von Graf Nesselrode die 
Gründe zusammengestellt worden waren, die für die Erwerbung von Kon- 
stantinopel sprachen, mit fester Hand geschrieben: Die Erwerbung von 
Zarigrad (der russische Name für Konstantinopel) würde kein Glück für 
Rußland sein. Eine bloße Gouvernementshauptstadt wie Odessa oder Kiew 
könne Konstantinopel nicht werden. Eine dritte Reichshauptstadt neben
	        
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