DAS EUROPÄISCHE GLEICHGEWICHT 415
Petersburg und Moskau würde eine Schwächung für Rußland bedeuten.
Der Schluß des Allerhöchsten Marginals hatte gelautet: „Ich selbst werde
einen solchen Fehler nicht begehen. Gott bewahre meine Nachfolger vor
einem solchen.“
Auch der Deutsche Reichstag hatte sich bereits mit der orientali-
schen Krisis beschäftigt. Mein Vater wurde am 8. November zu einer öffent-
lichen Erklärung über die Stellungnahme Deutschlands genötigt. Der
bayrische Zentrumsabgeordnete Dr. Jörg, jener verbissene Partikularist,
dessen unpatriotische Haltung im Juli 1870 ich seinerzeit beleuchtet habe,
hatte der deutschen Politik gegenüber den Balkanwirren „Kurzsichtigkeit““
und „Schwäche“ vorgeworfen. Die orientalischen Wirren seien die Folge
der Kriege von 1866 und 1870 und der durch diese hervorgerufenen
„völligen“ Vernichtung des europäischen Gleichgewichts. Bewaffnet bis an
die Zähne, sche das deutsche Volk trotz unerträglich schwerer Rüstung
seine teuersten Interessen geopfert. Es sei an der Zeit, die allzu schwere
deutsche Rüstung abzulegen, damit das deutsche Volk wieder aufatmen
könne. Andernfalls würde es im Augenblick des nahe bevorstehenden euro-
päischen Entscheidungskampfes schon ausgeatmet haben. Mein Vater be-
tonte gegenüber den teils einfältigen, teils perfiden Ausführungen des
Abgeordneten Jörg, daß die deutsche Politik vor allem eine Politik des
Friedens sei. Sie mische sich nicht in fremde Angelegenheiten, sondern habe
nur Deutschlands Ehre und Interesse im Auge, und ganz besonders bei
Fragen, die uns nicht unmittelbar berührten. Das sei bisher die Politik des
Reichs gewesen, und sie werde es bleiben. Unsere Stellung zu allen Mächten
sei auf Vertrauen und Achtung begründet. Wir würden dafür sorgen, daß
wir uns dieses Vertrauen und diese Achtung erhielten. Deutschland werde
das Bollwerk des Friedens sein und bleiben. Und dies Bollwerk werde um
so fester sein, je mehr die Regierung hoffen könne, daß sie das Vertrauen
der Nation, das Vertrauen ihrer Vertreter haben, verdienen und bewahren
würde. Unter Zustimmung der großen Mehrheit des Reichstages sprach der
nationalliberale Abgeordnete Braun (Wiesbaden) sein Einverständnis mit
den Darlegungen des Staatssekretärs von Bülow und sein Vertrauen zur
auswärtigen Politik des Fürsten Bismarck aus. „Und wenn wir diese
Politik unterstützen‘, schloß Braun, „so erfüllen wir unsere Pflicht und
Schuldigkeit besser als diejenigen, die, ohne gewiß zu sein, daß das Kapitol
in Gefahr ist, es durch ihr Schnattern glauben retten zu können.“ Der
Schluß der Ausführungen des Abgeordneten Braun rief bei der Mehrheit
des Hauses lebhaften Beifall und große Heiterkeit hervor.
Am Tage nachdem mein Vater im Reichstage gesprochen hatte, hielt der
englische Premierminister Benjamin Disra&li, seit zwei Jahren der Earl
of Beaconsfield, im House of Lords eine große Rede. Er umgürtete sich, um
Reichstags-
debatte
über die
Orientkrise
Rede
Disraelis