Mademot-
selle A.
Der Russisch-
Türkische
Krieg
422 DIE JUNGFRAU VON ATHEN
letzten Blicke des Sterbenden geruht hatten und das noch jetzt in meinem
Schlafzimmer in der Villa Malta hängt.
Die Schönste unter den schönen Hofdamen der Königin war Fräulein
A. Ihre großen blauen Augen erinnerten an die der Pallas Athene, ihre
prachtvolle Figur an die Karyatiden des Erechtheion. Sie gefiel mir sehr
gut. Ich besuchte sie oft. Wir machten zusammen lange Spaziergänge. Ich
überlegte, ob ich mit ihr den Bund fürs Leben schließen sollte. Vieles sprach
dagegen. Es war mir nicht ganz sicher, ob sie sich an deutsche Verhältnisse
gewöhnen würde. Sie kam mir auch, wenn nicht gerade ihre Pallas-Athene-
Augen auf mich gerichtet waren, recht ungebildet vor. Was hätten meine
Eltern zu einer hellenischen Schwiegertochter gesagt ? Aber sie war schön,
sehr schön. Die Entscheidung brachte eine zufällige Straßenbegegnung.
Maid of Athens, here we part,
Give, oh give me back my heart!
Or, since that has left my breast,
Keep it now, and take the rest!
Hear my vow before I go:
’ ee \ > u
Zwn uoö, ydo AYanö.
So lautet eins der schönsten Gedichte von Byron. Als ich einmal mit
meinem englischen Freunde Mr. Wyndham auf der Straße von Kephissia
spazierenging, begegnete uns eine unförmig dicke Frau. Sie wackelte wie
eine Ente. Wyndham stellte mich ihr vor. Was sie sagte, war unbeträchtlich.
Schlimmer als das: Sie roch nach Knoblauch. Als sie sich entfernt hatte,
sagte mir Wyndham: „Das ist die Maid of Athens von Lord Byron.“ Ich sah
der watschelnden Alten nach, deren Silhouette in der klaren griechischen
Luft doppelt unerfreulich wirkte. Und doch hatte Byron von ihr gesungen.
Athens holds my heart and soul:
Can 1 cease to love thee? No!
Ich war ernüchtert und gab den Gedanken auf, eine Hellenin zum Altar
zu führen.
Im April 1877 waren die Russen in Rumänien einmarschiert. Im Mai
hatten die Donaufürstentümer der Pforte den Krieg erklärt. Nachdem
Kaiser Alexander II. sein Hauptquartier an der Prahova, in der rumäni-
schen Stadt Plojesti, genommen hatte, setzte das russische Hauptheer über
die Donau. Mitte Juli überschritten die Russen unter General Gurko den
Schipkapaß, und das russische Hauptquartier wurde nach Tirnowa verlegt,
das im Mittelalter die Hauptstadt der Bulgaren gewesen war. Dagegen
besetzten die Türken Plewna in der rechten Flanke der Russen. Sie
verschanzten sich dort unter dem tapferen Osman Pascha, der für kurze Zeit