XXXI. KAPITEL
Friede von San Stefano (März 1878) - Berufung in das Sekretariat des Berliner Kon-
gresses - Rückblick auf Athen »- Berlin im Juni 1878 - Attentate auf Kaiser Wilhelm I.
Hödel und Nobiling » Reichstagsauflösung und Neuwahlen » Das Sozialistengesetz
Staatssekretär von Bülow über den Berliner Kongreß - Lebensgefährliche Halsentzün-
dung + Die ersten Sitzungen des Kongresses
nfang Januar 1878 überschritten die Russen auf der ganzen Linie den
Balkan, besetzten Philippopel und marschierten auf Adrianopel. Der
Augenblick schien gekommen, wo Kaiser Alexander II. den hundert-
jährigen Traum des russischen Volkes verwirklichen und das orthodoxe
Kreuz auf der Hagia Sophia aufpflanzen würde. Aber der Kaiser war schon
im Dezember 1877 aus dem Feldlager nach St. Petersburg zurückgekehrt.
Die Sehnsucht nach Jekaterina Michailowna Dolgorukij hatte ihm keine
Ruhe gelassen. Der Bruder des Zaren, der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch,
mußte als Oberbefehlshaber der russischen Donau-Armee auf dem Kriegs-
schauplatz ausharren, konnte aber kaum den Augenblick erwarten, auch
seinerseits nach Hause zu fahren. Seiner harrte an der Newa eine polnische
Tänzerin, die ihm und Rußland schon viel Geld gekostet hatte. Beide, der
Kaiser und der Großfürst, sagten sich, daß eine Besetzung Konstantinopels
vielleicht zu einem europäischen Kriege führen, jedenfalls das Wiedersehen
mit ihren Liebchen erheblich stören würde. Umgekehrt wie Herakles zogen
sie den Dienst am Rocken der Omphale dem Ruhm vor, der aus großen
Taten erblüht.
Ende Januar 1878 wurde in Adrianopel zwischen Russen und Türken
ein Waffenstillstand, zwei Monate später in San Stefano, einem am
Marmarameer idyllisch gelegenen Städtchen, ein russisch-türkischer Praäli-
minarfriede abgeschlossen. Von russischer Seite unterzeichneten Nikolai
Pawlowitsch Ignatjew und Alexander Iwanowitsch Nelidow. Der letztere
wurde fünf Jahre später an der Stelle von Ignatjew Botschafter in Kon-
stantinopel, später in Rom, endlich in Paris. Er starb dort 1910 und erhielt
Iswolski als Nachfolger. Durch den Frieden von San Stefano wurden Ru-
mänien, Montenegro und Serbien für unabhängig erklärt, die beiden letz-
teren erheblich vergrößert. Bulgarien blieb der Pforte tributpflichtig, er-
hielt aber einen christlichen Fürsten mit eigener Verwaltung und wurde
San Stefano