KONGRESS IN BERLIN 429
England geführt wurden. Von englischer Seite unterhandelte Lord Salis-
bury, dem der englische Premierminister, der Earl of Beaconsfield, an
Stelle des ihm zu unentschlossenen Lord Derby die auswärtigen Geschäfte
anvertraut hatte. Sein Gegenspieler, der russische Botschafter Graf Peter
Schuwalow, kannte wie kaum ein anderer Kaiser Alexander II. Er wußte,
daß dieser des langen Krieges schon sehr müde war, und hoffte ihm zu ge-
fallen, wenn er eine gütliche Verständigung mit England anbahnte. Obwohl
ein langjähriger und feiner Kenner fürstlicher Psyche, vergaß er, daß es
Fürsten zwar angenehm ist, wenn sie um Schwierigkeiten herumgebracht
und aus Gefahren befreit werden, daß sie aber hinterher nicht immer dank-
bar sind. Fürst Bismarck sprach die Wahrheit, wenn er später mehr als
einmal sich gerühmt hat, als ‚‚ehrlicher Makler“ die Verständigung zwischen
England und Rußland gefördert zu haben. Er hatte zweifellos recht, wenn
er in seiner gegen den Abgeordneten Eugen Richter gerichteten Rede vom
6. Dezember 1876 erklärte, er werde nicht zu irgendwelcher aktiven Be-
teiligung Deutschlands an orientalischen Verwicklungen raten, solange bei
dem ganzen Streit für uns kein Interesse in Frage stehe, welches auch nur
die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.
Eine andere Frage ist, ob es zweckmäßig war, daß Fürst Bismarck bei seiner
Maklertätigkeit unter geflissentlicher Ignorierung von Gortschakow gerade
Peter Schuwalow heranzog, den er Anfang Mai demonstrativ nach Fried-
richsruh einlud. Er hoffte durch die Unterstützung, die er Schuwalow ge-
währte, und die Aufmerksamkeiten, die er ihm so reichlich erwies, die Blicke
des Zaren auf ihn als auf einen geeigneten Ersatz für Gortschakow zu
lenken. Das war ein Irrtum, schon weil Schuwalow, wie ich seinerzeit er-
zählte, seitdem er sich die Ungnade des Kaiserliebchens zugezogen hatte,
bei Alexander II. nicht mehr in Gunst stand.
Anfang Mai 1878 erhielt ich von meinem Vater ein Telegramm, das mich
von der Führung der Kaiserlichen Gesandtschaft in Athen entband und in
das Sekretariat des Kongresses berief, der Mitte Juniin Berlin zusammen-
treten sollte. So sehr ich mich dieser Bestimmung freute, so trennte ich mich
doch nicht leichten Herzens von Athen. Ich war meinem Vater dankbar,
daß ich durch anderthalbjährige selbständige Leitung einer größeren
Mission in bewegter Zeit und unter nicht ganz leichten Verhältnissen meine
praktische diplomatische Ausbildung besser gefördert hatte, als mir dies
auch durch fleißigste theoretische Studien möglich gewesen wäre. Zum ersten-
mal begriff ich, was Bismarck meinte, wenn er die Diplomatie gern als
„Arbeit in Menschenfleisch‘“ bezeichnete, d.h. als eine Arbeit, bei der es
auf Psychologie, Takt, Flair, auf die Kunst der Menschenbehandlung an-
kommt. Ich glaube noch heute, daß mir meine griechische Lehrzeit von
dauerndem politischem Nutzen gewesen ist. Aber darüber hinaus hatte ich
Russisch-
englische
Verhandlungen
Von Athen
nach Berlin