NUMMER ZWEI 27
verwies er mir vor allem meine Niedergeschlagenheit. So leicht dürfe sich
ein ordentlicher Junge nicht umwerfen lassen. ‚Tu ne cede malis, sed contra
audentior ito!““ Beim nächsten Extemporale möge ich meine Gedanken
besser zusammenhalten, dann würde ich die Scharte wieder auswetzen. Zu
Weihnachten bekam ich denn auch ein gutes Zeugnis: Nr. II. Als ich es
meinem Vater überreichte, meinte dieser: „Eine I wäre mir lieber ge-
wesen.‘ Nicht ohne Pikiertheit wies ich darauf hin, daß meine Mitschüler
eine III, eine IV oder gar eine V bekommen hätten. Ich frug: „Was würdest
du denn sagen, wenn es mir auch so ginge?“ Mein Vater erwiderte: „Dann
würde ich dich Schneider werden lassen.‘ Auch dies stand nicht ganz im
Einklang mit der Auffassung der guten Herrnhuter. Bezeichnend für das
Deutschland des Frankfurter Bundestages erscheint mir, daß von meinen
Frankfurter Schulkameraden manche Wien, viele Paris besucht hatten.
Berlin kannte keiner.
Der Direktor des Frankfurter Gymnasiums trug einen berühmten
Namen. Er hieß Tycho Mommsen und war der um zwei Jahre jüngere
Bruder des Geschichtschreibers und Altertumsforschers Theodor Mommsen.
Er dozierte mit pedantischer Strenge die alten Sprachen. Sie hatte aber die
gute Folge, daß er bei seinen Schülern eine feste Basis schuf, die sich später
als vorteilhaft erwies. Übrigens hat auch Tycho Mommsen, ohne es dem
größeren Bruder gleichzutun, durch seine Übersetzung Pindars, seine Auf-
sätze über die Satiren des Horaz und seinen feinen Essay über die Kunst des
deutschen Übersetzens aus neueren Sprachen sich einen guten Namen ge-
macht. Das Frankfurter Gymnasium war eine Simultanschule. Meinen
katholischen Mitschülern erteilte Geschichtsunterricht Professor Johan-
nes Janssen, der, als zehn Jahre später der unselige Kulturkampf ent-
brannte, einer der leidenschaftlichsten Vorkämpfer der ultramontanen
Richtung wurde. Seine Biographie des Grafen Friedrich Leopold Stolberg
und vor allem seine „Geschichte des deutschen Volks seit dem Mittelalter“
sind in diesem Geiste gehalten, von dem auch die von seinem Schüler Lud-
wig von Pastor verfaßte monumentale Geschichte der Päpste erfüllt ist.
Von meinen Lehrern am Frankfurter Gymnasium bewahre'ich unserem
Geschichtslehrer, Herrn Dr. Theodor Creizenach, ein besonders dank-
bares Andenken. Wie schon Dr. Lohr, so förderte er in mir Verständnis für
die deutsche Geschichte und damit für nationales Empfinden. Dr. Crei-
zenach war Israelit. Einmal malten während einer Pause ein paar unge-
zogene Jungen eine häßliche Karikatur an die Wandtafel, die auf die jüdi-
sche Abstammung unseres Lehrers hindeuten sollte. Mein Bruder und ich
widersetzten uns dieser Roheit. Es kam zu einer Prügelei, bei der uns
nach dem Ablauf der Pause unser Geschichtslehrer überraschte. Natürlich
denunzierten wir die Übeltäter nicht, aber Dr. Creizenach schien doch den
Das Kollegium