DIE ÜBERSCHÄTZUNG DER GEWALT 435
des eigenen Landes dabei nicht zu kurz kommen dürfe. Der Deutsche
opfert auf dem Altar der grauen Theorie mit den Interessen seines Vater-
landes selbst sein persönliches Wohl. Aber war das Gesetz gegen die gemein-
gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das im Herbst 1878 dem
neugewählten Reichstag vorgelegt und von ihm am 18. Oktober mit starker
Mehrheit angenommen wurde, der rechte Weg, um unser Volk gegen die
schweren Gefahren zu schützen, mit denen es die sozialdemokratische Be-
wegung bedrohte?
Wie ein anderer großer Mann der Tat, wie Napoleon, überschätzte
Bismarck bisweilen die Macht der Gewalt. Er wollte nicht einsehen, daß
geistigen Bewegungen gegenüber die Gewalt versagt, daß es ebensowenig
angeht, eine geistige Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, wie es möglich
ist, die Luft zu komprimieren, indem man die beiden inneren Handflächen
gegeneinander preßt. Obschon die Sozialdemokratie auf einer wissen-
schaftlich sehr anfechtbaren, größtenteils längst überwundenen Doktrin
beruhte, mit allen ihren Übertreibungen und Auswüchsen, und trotz ihrer
riesengroßen Gefahr für Wohl und Zukunft des Landes und des deutschen
Volkes war die sozialdemokratische Bewegung doch vielfach der Ausdruck
begreiflicher, ja berechtigter Stimmungen, Gefühle und Ideale des Arbeiter-
standes. Und endlich trug das Sozialistengesetz, wie seinerzeit die Kultur-
kampfgesetze, in nur zu vielen Bestimmungen den Stempel seiner Aus-
arbeitung durch die Bürokratie der inneren Ressorts. Die den Polizei-
präsidenten der größeren Städte gegebene und von diesen gern benutzte
Befugnis, die sozialdemokratischen Agitatoren auszuweisen, hatte zur
Folge, daß auf diese Weise die sozialdemokratischen Irrlehren in Gegenden
getragen wurden, die bisher von ihnen noch nicht verseucht waren. Wie
im Kulturkampf schuf man Märtyrer der Gesinnung und stärkte die
Bewegung, die man unterdrücken wollte. Und endlich sollte sich wieder
zeigen, daß eine im geheimen betriebene Wühlerei gefährlicher ist als eine
der öffentlichen Kritik und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit unter-
liegende Agitation.
Am 13. Juni fand die erste Sitzung des Berliner Kongresses statt.
Fürst Bismarck begrüßte die Bevollmächtigten in knapper Ansprache,
woraufer auf Antrag desersten österreichisch-ungarischen Bevollmächtigten,
des Grafen Andrässy, zum Präsidenten des Kongresses gewählt wurde. Am
Abend gab, umgeben von allen Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen
Hauses, der Kronprinz im Weißen Saal des altehrwürdigen Berliner
Schlosses den Mitgliedern des Kongresses im Namen seines noch an das
Schmerzenslager gefesselten Vaters ein Festmahl. Mit dem Herzenstakt, der
den Kronprinzen auszeichnete, hatte er, da sein Vater nicht anwesend war,
den Thronhimmel aus dem Weißen Saal entfernen und an seiner Stelle das
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Das
Sozialisten-
Gesetz
Eröffnung des
Berliner
Kongresses