GROSSE SPANNUNG 439
Lobe den Herrn, der künstlich und fein dich bereitet,
Der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet:
In wieviel Not
Hat nicht der gnädige Gott
Über dir Flügel gebreitet!
Zwölf Tage nach meiner Erkrankung meldete ich mich wieder zum
Dienst. Ich sah noch sehr blaß aus, und als ich die Treppe zum ersten
Stock im Reichskanzlerpalais heraufstieg, mußte mich Herbert Bismarck
stützen, der sich während meiner Rekonvaleszenz täglich in der freund-
schaftlichsten Weise nach meinem Befinden erkundigt hatte. Jetzt sagte
er mir: „Es wird Sie freuen, daß mein Vater, als Sie so krank waren, die
Bemerkung hat fallen lassen: ‚Hoffentlich kommt der junge Bülow durch.
Von den jüngeren Diplomaten ist er wohl der begabteste. Und, was wichtiger
ist als die Begabung: er hat Takt.‘ “
In der ersten Sitzung des Kongresses, der ich wieder beiwohnte, hielt
Gortschakow eine Rede, die bewies, daß Bismarck nicht unrecht hatte,
wenn er ihn einen ganz großen Komödianten nannte. Gortschakow hatte
den ersten Kongreßsitzungen wegen Krankheit nicht beiwohnen können.
Jetzt erschien er, von zwei Dienern gestützt, wie hundert Jahre früher
Lord Chatham, als er nach der Niederlage der Engländer bei Saratoga sich
in das House of Lords tragen ließ, um dort gegen Nachgiebigkeit und
schimpflichen Frieden zu protestieren. Weiter ging die Ähnlichkeit nicht
zwischen dem ernsten und großen englischen Staatsmann und dem eitlen
Ränkeschmied, der Rußland auf dem Berliner Kongreß vertrat. Nachdem
Gortschakow Platz genommen hatte, erklärte er in formvollendetem
Französisch, er müsse, wenn er zum erstenmal an den Beratungen des
Kongresses teilnehme, einige Bemerkungen machen, die ihm durch die
Liebe zur Wahrheit und zu seinem Vaterland eingegeben würden, die
während seines ganzen Lebens sein Tun bestimmt hätten. Während der
letzten Beratungen, an denen er nicht habe teilnehmen können, hätten
seine Kollegen im Namen Rußlands Zugeständnisse gemacht, die weit
diejenigen überschritten, die er zu machen gedacht habe. Dabei verbeugte
sich Gortschakow mit sarkastischem Lächeln gegen Graf Peter Schuwalow
und gegen den russischen Botschafter in Berlin, Baron Oubril. Große
Spannung bemächtigte sich des Kongresses. Eine allgemeine Unruhe machte
sich bemerkbar. Er kenne zu gut, fuhr Gortschakow fort, die loyalen
Gefühle seiner Kollegen, um etwas gegen die Zugeständnisse zu sagen, zu
denen sie sich verpflichtet gefühlt hätten. Er wolle nur feststellen, daß das
große Rußland solche Opfer nur wegen seiner Liebe zum Frieden bringe,
wie es ja auch den ganzen Krieg nur geführt habe, um den Christen im
Orient zu helfen. Rußland verfolge keine selbstsüchtigen, keine heimlichen
Gortschakow
gibt Er-
klärungen ab