Disraelı
antıcortet
Die Bulga-
rische Frage
440 BISMARCK LÄCHELT
Zwecke. Wie es lediglich für Christentum und Zivilisation gekämpft habe,
so bringe es jetzt auch große Opfer für die Wiederherstellung des Friedens.
Niemand werde den Ruhm der russischen Armee in Frage stellen, die so
glänzende Siege errungen habe. Aber Rußland wolle der Welt zeigen, daß
es die mit dem kostbarsten Blut errungenen Lorbeeren des Sieges gegen die
Palme des Friedens einzutauschen wünsche.
Dieser Rede folgte tiefes Schweigen. Alle Teilnehmer des Kongresses
sahen sich verdutzt an. Bismarck, dem Phrasen auf die Nerven gingen,
lächelte sarkastisch. Beaconsfield, der kein Französisch verstand, ließ
sich zunächst die Rede des russischen Kanzlers übersetzen. Dann erhob er
sich und erwiderte mit einem ungemein wohlklingenden Organ, mit dem
Tonfall eines großen Redners, indem er sich gegen Gortschakow verbeugte:
„Ich bin überzeugt, der Dolmetscher der Gefühle des Kongresses zu sein,
wenn ich der tiefen Bewunderung Ausdruck gebe, mit der mich die Rede
meines edlen und erlauchten Freundes erfüllt hat. Ich bin glücklich in dem
Gedanken, daß es der Wunsch nach Frieden war, der die Entschließungen
Rußlands in den letzten Beratungen geleitet hat. Im Namen dieses Kon-
gresses, der mir zuhört, möchte ich das anerkennen, und ich hoffe, daß alle
unsere Beratungen auch weiterhin von so edlen Gefühlen erfüllt sein
werden.“
Während der Abwesenheit von Gortschakow hatten Schuwalow und
Oubril die von England und Österreich gewünschte Regelung der Bul-
garischen Frage akzeptiert. Rußland verzichtete auf ein einheitliches
Bulgarien nördlich und südlich des Balkans bis zum Ägäischen Meer, wie
es der Vertrag von San Stefano in Aussicht genommen hatte, und gab sich
mit einem Bulgarien nördlich des Balkans zufrieden. Der südliche Teil
jenes Neu-Bulgariens sollte unter dem Namen ÖOstrumelien organisiert
werden. England und Österreich wollten die Türkei südlich des Balkans als
lebensfähige Macht konservieren. Dafür wurden Rußland zwei wichtige
Konzessionen gemacht: Einmal sollten zwar alle Donaufestungen geschleift,
aber sämtlich einschließlich Varnas dem neuen Fürstentum Bulgarien
überantwortet werden. Dann wurde diesem auch Sofia zugeteilt, von wo
aus der Balkan leicht umgangen werden konnte. Dem retrospektiven Be-
trachter tritt deutlich vor Augen, wie häufig und wie sehr sich auch erfahrene
Diplomaten über die Folgen ihrer Entscheidungen täuschen können. Auf
dem Berliner Kongreß vertraten die russischen Delegierten mit lebhaftem
und unermüdlichem Eifer alle bulgarischen Wünsche. Jeden Widerspruch
waren sie geneigt als eine Rußland zugefügte Kränkung zu betrachten.
Kaum ein Jahrzehnt später sah Rußland in Bulgarien einen Gegner, und
während des Weltkrieges focht Bulgarien gegen Rußland. „Was er webt,
das weiß kein Weber“.