EIN ENGLISCHER VORSCHLAG 441
Am 28. Juni verlas beim Beginn der Sitzung Graf Andrässy ein langes
Memorandum, in dem darauf hingewiesen wurde, daß Österreich während
mehr als einem Jahr unter der Insurrektion und der Agitation in den
Nachbarländern an seinen Grenzen zu leiden hatte. Österreich-Ungarn
habe über hundertfünfzigtausend bosnische Flüchtlinge aufnehmen müssen,
die sich hartnäckig weigerten, nach Bosnien zurückzukehren, so lange ihre
Heimat unter türkischer Herrschaft verbleibe, die ihnen weder Existenz
noch Schutz gewähre. Die Türkei sei augenscheinlich nicht in der Lage, die
Ordnung in diesen Provinzen aufrechtzuerhalten, die sich in einem un-
beschreiblichen Zustand von Elend und revolutionärer Agitation befänden.
Es bestehe die Gefahr, daß dieses Elend und diese Agitation auf die
slawische Bevölkerung der angrenzenden ungarischen Monarchie über-
greifen werde. Wenn der Kongreß die Fortdauer solcher Zustände gestatte,
nähme er eine sehr ernste Verantwortung für die künftige Ruhe Europas
auf sich. Graf Andrässy schloß: „Ich verlange nicht, daß Bosnien von
Österreich-Ungarn annektiert wird. Ich wünsche nur, der Kongreß möge
überhaupt zu einem Entschluß kommen. Sobald dieser praktisch erscheint,
wird Österreich-Ungarn ihm beitreten.“
Darauf erhob sich der Marqueß of Salisbury. Er verlas ein Memoire,
in dem er erklärte, England sei durchdrungen von der Gerechtigkeit der
Bemerkungen des ersten österreichisch-ungarischen Bevollmächtigten. Da
sein edler Freund, der Graf Andrässy, die offene Aneignung von Bosnien
zurückweise und sich mit der Annexion zur linken Hand begnüge, schlage er
dem Kongreß vor, zu beschließen, daß Österreich-Ungarn beauftragt werde,
Bosnien und die Herzegowina zu okkupieren und zu verwalten. Es
liege im Interesse Europas, diese Provinzen unter den direktenSchutz eines
mächtigen Staates zu stellen. Dieser Staat könne einzig und allein Österreich-
Ungarn sein, der unmittelbare Nachbar Bosniens und der Herzegowina.
Österreich-Ungarn falle die Aufgabe zu, die Insurrektion dort zu Ende
zu bringen.
Für Frankreich schloß sich Waddington dem englischen Vorschlage
mit Enthusiasmus an. Er hob hierbei hervor, daß diese Regelung auch dem
wohlverstandenen Interesse der Türkei entspräche. Der italienische Be-
vollmächtigte, Graf Corti, erklärte seine Zustimmung, aber ohne besondere
Freudigkeit. Er ahnte, daß das italienische Volk, gewohnt, bei jeder
größeren europäischen Komplikation zu profitieren, mit ihm unzufrieden
sein werde, wenn er mit leeren Händen von Berlin nach Rom zurückkehre.
Fürst Gortschakow, der zwei Jahre früher das Reichstadter Abkommen
mit Graf Andrässy abgeschlossen hatte, sprach seine volle Zustimmung
aus: „La motion anglaise relative ala Bosnie et a la Herzegovine rentre dans
les vues gen£rales de la Russie, et je lui donne mon entiere adhesion.‘* Ich
Österreich soll
Bosnien
okkupieren