Die
Griechische
Frage
Drei neue
Fürstentümer
442 DAS DANAERGESCHENK
hörte schon damals, zwischen Österreich-Ungarn und Rußland sei
brieflich während des Kongresses abgemacht worden, daß Österreich-
Ungarn, wenn ihm dies im Interesse der Ruhe auf dem Balkan und für den
Frieden Europas zweckdienlich erscheine, die Okkupation mit Zustimmung
der Großmächte in eine Annexion verwandeln könne. Der englische Vorschlag
wurde vom Kongreß einstimmig angenommen. Nur der türkische Be-
vollmächtigte legte eine schüchterne Verwahrung ein. Er wurde von Lord
Beaconsfield sarkastisch, von Fürst Bismarck fast grob zurechtgewiesen.
Niemand im Kongreßsaal ahnte, daß die Angliederung Bosniens und der
Herzegowina für Österreich-Ungarn ein Danaergeschenk sein und daß von
hier sechsunddreißig Jahre später der Anstoß zum Zusammenbruch der
alten habsburgischen Monarchie kommen würde.
Am 29. Juni erledigte der Kongreß die Griechische Frage. Frankreich
und Italien beantragten eine Grenzrektifikation zugunsten Griechenlands,
wenn möglich im Einvernehmen der Griechen mit der Pforte, eventuell
unter Vermittlung der Mächte. England zeigte anfänglich Bedenken, die
es aber bald aufgab. Rußland unterstützte rückhaltlos den französisch-
italienischen Vorschlag. Die armen Türken, deren Widerstand allmählich
erlahmte, schützten Mangel an Instruktionen vor. Am Abend des 29. Juni
sagte Fürst Bismarck im Salon seiner Frau vor mir lächelnd und freundlich
zu meinem Vater: „Die Konzessionen an Griechenland waren ein Akt der
Courtoisie für Ihren ältesten Herrn Sohn, der übrigens seine Sache in Athen
ganz gut gemacht hat.“
Sehr interessant waren die ersten Julitage, in denen die Serbische, die
Montenegrinische und die Rumänische Frage erledigt wurden. Alle
drei Fürstentümer wurden für unabhängig von der Pforte erklärt, worein
diese schon durch den Vertrag von San Stefano gewilligt hatte. Den drei
neugeschaffenen Staaten wurde auf französischen Antrag die Gleichstellung
aller Konfessionen auferlegt. Diese letztere Bestimmung galt besonders
den Rumänen, die zwar von den in großer Zahl innerhalb ihrer Grenzen
lebenden Israeliten die Erfüllung aller staatsbürgerlichen Pflichten ver-
langten, ihnen aber alle politischen Rechte systematisch verweigerten.
Fürst Bismarck trat dem daraufbezüglichen französischen Vorschlag mit
Wärme bei. Er verwies auf die deutsche Reichsverfassung und erklärte, die
deutsche öffentliche Meinung verlange, daß der in Deutschland geltende
Grundsatz der Gleichberechtigung aller Konfessionen auch in der deutschen
auswärtigen Politik zur Anwendung gelange. Serbien erhielt Nisch,
Montenegro Podgoritza, aber beide keinen Hafen an der Adria. Von allen
Mächten im Stich gelassen, mußten die Rumänen Bessarabien wieder an
Rußland abtreten. Dagegen erhielten sie die Dobrudscha, einen Landstrich
von Silistria bis Mangalia am Schwarzen Meer, und die Schlangeninsel.