Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Deutschland 
und 
Frankreich 
470 DER THERMOMETER 
haben. Durch ihn wird Frankreich in Zukunft höher geachtet sein.“ Darum 
wurde, als Frankreich, allerdings mit Hilfe beider Hemisphären, siegreich 
aus dem Weltkrieg hervorgegangen war, das Herz des Kriegsverlängerers 
von 1870, Gambettas Herz, aus Nizza, wo sein Leib beigesetzt ist, in die 
französische Ruhmeshalle, in das Pariser Pantheon überführt. 
In kurzen, markigen, lapidaren Zügen schilderte mir Gambetta bei 
unserer ersten Begegnung sein Vorgehen und seine Haltung nach Sedan als 
Mitglied der Regierung der Nationalverteidigung. „Frankreich“, sagte er 
mir, „war in die Knie gesunken. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Debout et 
marche!‘ Wer in großen Augenblicken Frankreich regiert‘, fuhr er fort, 
„hat das Gefühl, einen Thermometer in der Hand zu halten; ein Druck der 
Hand läßt den Thermometer steigen oder fallen. In solchen Momenten, in 
großen Momenten, kann man alles mit Frankreich machen.“ (Dans ces 
moments, dans les grands moments on peut tout faire dela France.) Er kam 
nun auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Ich 
würde wohl gehört haben, daß er bald nach dem für Frankreich unglück- 
lichen Ausgang des Krieges mit Bezug auf die Revanche geäußert habe, 
daß man immer an sie denken, aber nie von ihr sprechen müsse. Das sei 
nach wie vor seine Ansicht. Man habe ihm in Deutschland übelgenommen, 
daß er von der „‚Justice immanente‘“ der Geschichte gesprochen habe. 
Daraus folge noch nicht, daß ein Krieg zwischen Frankreich und Deutsch- 
land unvermeidlich sei oder gar nahe bevorstünde. Lächelnd fügte er hinzu: 
„Sehen Sie nach Rom. Als die Italiener durch die Bresche der Porta Pia in 
die Ewige Stadt einzogen, glaubte man allgemein, Papst und König würden 
nicht in derselben Stadt zusammen hausen können. Man zitierte unseren 
guten Victor Hugo: ‚Ceci tuera cela.‘ Nun sehen Sie, Papst und König leben 
noch immer in Rom friedlich nebeneinander. Sie lieben sich nicht, aber sie 
kratzen sich nicht die Augen aus. Natürlich hofft der Papst, daß er einmal 
wieder allein in Rom residieren wird. Und die Italiener hoffen, daß er sich 
schließlich restlos mit ihnen aussöhnen wird. Aber vorläufig kommen sie 
tant bien que mal miteinander aus. Zwischen Frankreich und Deutschland 
sind viele Zukunftsmöglichkeiten denkbar, viele „combinazione‘“, wie die 
Italiener das nennen. Sie kennen die Redensart: „La France desire la 
revanche, mais elle veut la paix.“ Der erste Teil dieser Phrase ist nur mit 
Einschränkung richtig, der letztere ist absolut wahr.“ 
Der modernen sozialdemokratischen Bewegung, deren Prophet Karl 
Marx von London aus die kommunistischen Lehren verbreitete und die im 
Deutschen Reichstag schon durch Bebel und Liebknecht vertreten war, 
stand Gambetta völlig ablehnend gegenüber. Er hatte ebensowenig Ver- 
ständnis für sie, wie achtzig Jahre früher die Jakobiner Verständnis für 
Babeuf gehabt hatten, den sie aufs Schafott schickten. „Ich leugne““‘, sagte
	        
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