LOTTES ENKEL 4713
gebrachte Frankreich. Er befriedigte ganz weder die Dreyfusfreunde noch die
Dreyfusfeinde, wie das meistens das Los einer verständigen Politik ist. Aber
er stellte durch die Begnadigung von Dreyfus und ein Amnestiegesetz für
alle mit der Dreyfus-Affäre zusammenhängenden Strafsachen den inneren
Frieden wieder her. Gleichzeitig brachte er im Hinblick darauf, daß die
sechsjährigen Dreyfus-Wirren durch klerikale Intrigen hervorgerufen
worden waren, trotz dem leidenschaftlichen Widerstand der Rechten ein
gegen die geistlichen Orden gerichtetes Vereinsgesetz ein. Am Tage, an dem
er dieses Gesetz durchgesetzt hatte, trat er im Juni 1902 mit dem Bewußt-
sein von der Regierung zurück, das französische Staatsschiff durch Sturm
und Klippen ungeschädigt in den Hafen geführt zu haben. Zwei Jahre
später starb er, noch nicht 58 Jahre alt, am Leberkrebs.
Während mir alle Gäste des Grafen Roger mit ausgesuchter Liebens-
würdigkeit begegneten, trug nur der Senator Scheurer-Kestner dem Scheurer-
Deutschen gegenüber eine spröde Haltung zur Schau. Dabei sah er mit Kestner
seinen blonden Haaren und mit blondem Bart, groß und breitschultrig,
ganz wie ein Deutscher aus. Er entstammte der bekannten Mülhausener
Industriefamilie und war ein Enkel des anmutigen Fräuleins Charlotte Buff,
die als noch nicht zwanzigjähriges Mädchen unserem größten Dichter den
Kopf verdrehte. Als Lotte in Werthers Leiden wurde sie durch Goethe
unsterblich. Im irdischen Leben heiratete sie den Reichskammergerichts-
sekretär Johann Kestner und wurde die Großmutter chauvinistischer
Franzosen. Der Senator Scheurer-Kestner, der übrigens später als einer
der ersten mit Unerschrockenheit für Dreyfus eintrat, war französischer
als die Franzosen. Es ist ein alter Zug am Deutschen, daß er den feurigsten
Patriotismus entwickelt und sich am nationalsten gebärdet, wenn er sich
einem fremden Volkstum angeschlossen hat.
Der gütige Graf Roger du Nord hat mich noch öfters zu Tisch gebeten.
Ich lernte jedesmal interessante Leute bei ihm kennen, aus deren Kon- Der Anti-
versation ich lernen konnte und an deren Geist ich mich erfreuen durfte. Der klerikalismus
alte Graf sagte mir einmal über sein Vaterland ein richtiges und tiefes Wort.
„Frankreich“, sprach er zu mir, „ist gleichzeitig die älteste Tochter der
Kirche und die Mutter der Revolution. (Fille ainee de l’eglise et mere de la
revolution.) Das ist ein Vorzug für unsere auswärtige Politik, denn wir
können je nach Belieben die schwarze und die rote Karte ausspielen.
Gambetta meint sogar, wir könnten sie gleichzeitig ausspielen. Obwohl er
schon vor sechs Jahren in der berühmten Rede von Saint-Julien für
Frankreich die Parole ausgegeben hat: ‚le clericalisme, vuila l’ennemi‘,
obwohl er noch vor einem Jahr dem klerikalen Kabinett Broglie in der
Kammer zurief, daß Frankreich keine Pfaffenregierung dulde, will er außer-
halb der französischen Grenzen ‚la clientele catholique de la France‘