Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DAS BEISPIEL AN DER WAND 481 
niederlegung der Arbeitnehmer unorganisierte Arbeiter eingestellt. Solche 
Streikbrecher nennt man in Frankreich „les Jaunes“. Als es zu Prügeleien 
zwischen den Streikenden und den Streikbrechern kam, intervenierte die 
Kompanie, die auf den Schauplatz des Streiks geschickt worden war, der 
kommandierende Offizier ließ sofort Feuer geben, mehrere Arbeiter blieben 
tot auf der Strecke. Der Offizier wurde durch einen Steinwurf leicht ver- 
letzt. Der Ministerpräsident empfand es als seine Pflicht, selbst nach dem 
Rechten zu sehen. Als er an Ort und Stelle erschien, empfing ihn eine 
Arbeiterdeputation, die ihn bat, dem Begräbnis ihrer erschossenen Kame- 
raden beizuwohnen. Unwirsch und mit lauter Stimme erwiderte Clemenceau, 
er beteilige sich nicht an Ehrenbezeigungen für Männer, die das Gesetz ver- 
letzt hätten. Dann befahl er, daß man ihn nach dem Krankenhaus zu dem 
verwundeten Offizier führen möge. Dort eingetroffen, holte er ein Abzeichen 
der Ehrenlegion aus der Tasche, überreichte es dem Offizier und gab ihm 
die „Akkolade“, das heißt er umarmte und küßte ihn. Als einige Tage 
später in der Französischen Deputiertenkammer diese Vorgänge zur Sprache 
kamen, wurde Clemenceau an die Reden erinnert, die er mehr als einmal bei 
Kämpfen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zugunsten der Strei- 
kenden gehalten hatte. Er erwiderte mit ebensoviel Witz wie Geist und 
gesundem Menschenverstand: „Alors j’etais de l’autre cöte de la barricade. 
A present je suis a la tö&te du gouvernement et responsable de l’ordre et de 
l’avenir de la France. J’ai agi en consequence.“ Die französischen Republi- 
kaner wollten den Deutschen nicht das Beispiel vor Augen führen, das die 
betrunkenen Heloten der spartanischen Jugend gaben. 
Die Dritte Republik hat in Frankreich während ihres ganzen Bestehens 
die Ordnung mit unerschütterlicher Festigkeit aufrechterhalten. Deshalb 
aber war Harry Arnim doch nicht im Recht, wenn er gegenüber Bismarck 
die Ansicht vertrat, daß ein monarchisches Frankreich für uns einem repu- 
blikanischen vorzuziehen wäre. Mit der Französischen Republik haben wir, 
obwohl sie uns nicht den Gefallen tat, sich für uns als abschreckendes Bei- 
spiel für unsere demokratischen Kinder an die Wand malen zu lassen, und 
trotz des hitzigen Patriotismus auch der Republikaner und selbst ihrer 
stillen Revanchehoffnungen über vierzig Jahre in Frieden gelebt. Wir 
hätten noch länger mit der Französischen Republik in Frieden leben 
können, wenn unsere diplomatische Leitung in den tragischen Julitagen 
1914 weniger ungeschickt, weniger kopflos operiert hätte. 
Von den drei Jules, die nach dem Deutsch-Französischen Kriege eine 
Rolle in Frankreich spielten, Jules Simon, Jules Grevy und Jules Ferry, 
war Grevy der unbedeutendste. Er erinnerte mich äußerlich an alte 
Berliner Justizräte, die im Gerichtssaal durch Sachlichkeit, Ruhe und 
juristischen Scharfsinn glänzen, im Klub für ihren Humor und gelegentliche 
31 Bülow IV 
Die Affäre 
Wilson
	        
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