Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE TONGKING-EXPEDITION 483 
verfaßt hatte, die den Grund zu seinem Aufstieg und seiner großen politi- 
schen Karriere legte. Die phantastischen Erzählungen von E.T. A.Hoffmann 
sind in Frankreich bekannter und populärer als bei uns in Deutschland. 
Unter dem Titel: „‚Les contes fantastiques d’Haussmann“ veröffentlichte 
Ferry ein Jahr vor dem Sturz des Kaiserreiches einen scharfen Angriff 
gegen den Seine-Präfekten Haußmann, der unter Napoleon III. durch 
gewaltige Umbauten, die zu ungeheuren Schulden führten, Paris moderni- 
siert hatte. Das Wortspiel: Comptes (Rechnungen) — Contes (Erzählungen) 
machte Jules Ferry mit einem Schlage berühmt. Die Tongking-Expedition 
machte ihn zeitweise zum verhaßtesten Mann in Frankreich. Als 1885 die 
falsche Nachricht von einer schweren französischen Niederlage bei Lang- 
Son im nordöstlichen Tongking in Paris eintraf, mußte der Ministerpräsident 
Ferry auf einer Leiter über die Mauer zwischen dem Palais Bourbon und 
dem Garten des Auswärtigen Amtes klettern, um dem Pöbel nicht in die 
Hände zu fallen, der vor der Deputiertenkammer auf ihn lauerte und ihn 
in Stücke reißen wollte. Kein französischer Staatsmann hat unter der 
Dummheit und Ungerechtigkeit der ,„‚turba mobilium Quiritium‘“ mehr zu 
leiden gehabt als Jules Ferry. Man beschuldigte ihn der Hinneigung zu 
Deutschland. Ich war selbst Zeuge, wie Ferry auf der Straße vor der 
Deputiertenkammer höhnisch „Bismarck“ zugerufen wurde. In Wirklich- 
keit war Jules Ferry ein Chauvinist vom reinsten Wasser. Er gehörte zu den 
Gründern der Patriotenliga. Frankreich verdankt ihm die Erwerbung von 
Tunis und Tongking. Seine Gegner behaupteten, er habe sich von Bismarck 
nach Tunis und Tongking locken lassen, um die französische Volksseele von 
Elsaß-Lothringen abzulenken, Frankreich mit Italien zu verfeinden und 
die französische Armee zu zerrütten. In Wirklichkeit sah er hier weiter als 
Bismarck, der bis zu einem gewissen Grade hofite, daß große Kolonial- 
Erwerbungen die Franzosen über den Verlust der drei östlichen Departe- 
ments trösten würden. Ferry wußte, daß die französischen Gedanken immer 
wieder zu Straßburg und Metz zurückkehren würden. Inzwischen aber 
steckte er unter wohlwollender deutscher Duldung große, schöne, zukunfts- 
reiche Ländergebiete ein. 
Mit Ferry zu unterhandeln, wie mir dies während meiner Geschäfts- 
trägerzeit wiederholt oblag, war nicht leicht. Man merkte ihm bei jedem 
Wort seinen tiefen Haß gegen Deutschland an. Er sah überall Fallen, auch 
wo solche gar nicht vorhanden waren. Ich kam aber schließlich mit voll- 
kommener Ruhe, Sachlichkeit und Höflichkeit auch mit ihm gut aus, 
Gelegentlich hat er sich mit mir auch über andere als laufende politische 
Angelegenheiten freundlich unterhalten. Er war durch und durch autoritär 
und verachtete innerlich die platte Demokratie. Die Fraternite, namentlich 
die internationale ‚‚Fraternite‘“, erklärte er für eine alberne Phrase, die 
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Ferrys 
Testament
	        
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