Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DER WENDEPUNKT 503 
durchaus im Amte bleiben will, so muß er jetzt mindestens sechs bis acht 
Monate ausspannen.“ Mein Bruder fügte hinzu, daß mein Vater vorläufig 
weder von Urlaub noch gar von Rücktritt etwas hören wolle. 
Als ich meinen Vater aufsuchte, fand ich ihn körperlich sehr angegriffen. 
Er sah auch recht blaß aus. Geistig war er vollkommen gefaßt und klar. 
Von Ausspannen, setzte er mir mit ruhiger Bestimmtheit auseinander, 
könne jetzt nicht die Rede sein, denn unsere auswärtige Politik sei an einem 
Wendepunkte angelangt, der für die Geschicke des Vaterlandes wie der Welt 
für lange Zeit entscheidend sein würde. „Du weißt“, führte er weiter aus, 
„daß die persönlichen Beziehungen zwischen Bismarck und Gortschakow 
seit vier bis fünf Jahren leider keine guten sind. Die Hauptschuld trifft 
natürlich den alten Gortschakow mit seiner senilen Eitelkeit, seiner 
hämischen Bosheit. Aber auch unser großer Steuermann ist nicht ganz 
ohne Schuld. Er hat, wie du ja miterlebt hast, Gortschakow auf dem Berliner 
Kongreß zu schlecht behandelt. Seine demonstrative Bevorzugung von 
Peter Schuwalow war ein taktischer Fehler. Heftig, wie er nun einmal ist, 
ärgert Bismarck seitdem in allen Balkanfragen die Russen, um so Gor- 
tschakow zu strafen, und das, nachdem er während fünfzehn, ja eigentlich 
seit fünfundzwanzig Jahren stets erklärt hat, Preußen dürfe im Orient 
keine aktive und vor allem keine antirussische Politik treiben. Der gute alte 
Kaiser bedauert und mißbilligt in seiner ruhigen, verständigen Art diese 
Temperamentsausbrüche seines großen Kanzlers. Aber je älter er wird, um 
so schwerer wird es ihm, sich seinem genialen und stürmischen Berater zu 
widersetzen. Der Kaiser steht nun im Begriff, sich zu den großen Manövern 
nach Königsberg zu begeben. Da sich Alexander II. gerade in Warschau 
befindet, so hat der Kaiser den Feldmarschall Manteuffel dorthin entsandt, 
um den Zaren zu begrüßen. Ich halte das für ganz vernünftig, zumal 
Manteuffel das Vertrauen beider Kaiser besitzt.“ 
Am nächsten Tage traf die Nachricht ein, daß die beiden Kaiser sich in 
Alexandrowo, einem der preußischen Stadt Thorn gegenüber gelegenen 
russischen Grenzstädtchen, getroffen hatten. Die Begegnung war gut ver- 
laufen. In einem Brief an Bismarck, der zu dieser Zeit zur Badekur in Bad 
Gastein weilte, hatte Kaiser Wilhelm in seiner redlichen Art unter anderm 
auch geschrieben: der Zar habe geäußert, die beiden Monarchen würden 
sich schon verständigen, wenn Bismarck ‚avec son temperament fougeux“ 
nicht immer wieder Streit mit dem alten Gortschakow suche. Er, der 
Kaiser Wilhelm, sei dieser irrigen Auffassung entgegengetreten und hoffe, 
seinen Neffen überzeugt und beruhigt zu haben. Mit seiner genialen 
Phantasie, seinem niemals schlafenden Argwohn erblickte Bismarck in 
diesem kaiserlichen Brief den Beweis dafür, daß von russischer Seite auf 
seinen Sturz hingearbeitet würde, daß sein präsumtiver Nachfolger 
Bülows 
Vater leidend 
und besorgt 
Die Begeg- 
nung von 
Alexandrowo
	        
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