DIE HÄSSLICHSTEN MÄNNER 35
Bevor ich auf meinen Onkel Alfred Rücker zu sprechen komme, möchte
ich des Bruders des Senators Martin Jenisch, meines Großonkels Gottlieb
Jenisch, gedenken. Ich habe zwei sehr häßliche Männer gekannt. Der eine
war der Multimillionär Pierpont Morgan. Ihn entstellte eine Riesennase,
eine unförmlich große Nase, die einer gewaltigen Knolle glich, noch besser
einem mit Zucker bestreuten Granatapfel. Aber die Augen waren so
gescheit, um den feingeschnittenen Mund spielte soviel Humor und Geist,
der ganze Mann war so bedeutend und dabei so anziehend, daß die Nase
bald vergessen war. Ich habe mich mit wenigen Menschen besser unter-
halten. Er erzählte mir einmal, er sei als ganz junger Mensch von seinem
Vater mit einer verhältnismäßig bescheidenen Summe Geldes nach Europa
geschickt worden, um dort sein Glück zu versuchen. Dabei habe ihm sein
Vater nur die eine Regel mit auf den Weg gegeben, niemals etwas gegen die
amerikanischen Interessen zu unternehmen, for God backs the United
States. Er, Pierpont Morgan, habe in Europa zunächst Göttingen auf-
gesucht, um dort Mathematik zu studieren. Der Professor, bei dem er
Vorlesungen hörte, sei mit ihm sehr zufrieden gewesen. „Sie gefallen mir,
junger Amerikaner“, habe er nach einiger Zeit zu ihm gesagt, „wenn Sie
weiter so fleißig sind, können Sie es bis zum Privatdozenten und vielleicht
sogar bis zum Professor bringen.“ Pierpont Morgan hatte erwidert, daß
diese Aussicht ihm schmeichle und ihn locke. Er fürchte aber, sein Vater
habe ihn für das Bankfach bestimmt, und er werde sich diesem väterlichen
Wunsche beugen müssen. „Jedenfalls“, schloß Mr. Pierpont Morgan,
„würde ich als Dozent für reine Mathematik weniger Aufregungen durch-
gemacht haben als an der Börse von New York.“ Gottlieb Jenisch, der
einzige Bruder des Senators Martin Jenisch, war vielleicht noch häßlicher
als Pierpont Morgan. Im Gegensatz zu diesem hatte er eine kleine, ein-
gedrückte Nase, aber mit großen Nasenlöchern, weit abstehende Ohren,
eine niedrige Stirn, einen vorstehenden Mund. Nach dem bekannten
Ausspruch eines Naturforschers hat jeder Mensch Ähnlichkeit mit einem.
Tier. Mein guter Großonkel Gottlieb Jenisch glich dem Schimpansen und
wäre Darwin willkommen gewesen als Beispiel für die Abstammung des
Menschen vom Affen. Mistreß Pierpont Morgan liebte nicht nur ihren
Gatten trotz dessen Nase, sie war verliebt in ihn und sehr eifersüchtig auf
ihn. „All women are in love with him“, seufzte sie, „he is such a duck !“
Mein Großonkel Gottlieb Jenisch war mit einer guten und schönen Frau
verheiratet. Sie war eine verwitwete Gräfin Westphalen, eine geborene
Lützow. Sie entstammte der Familie, deren berühmtester Sprosse in den
Fıeiheitskriegen die „wilde verwegene Jagd“ führte, die Theodor Körner
besang und in deren Reihen er als Held fiel. Auch diese Ehe ging aus-
gezeichnet, ihr entstammten zwei schöne Töchter: die ältere heiratete den
3*
Gottlieb
Jenisch und
Pierpont
Morgan