Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Fabrizierte 
Zuschriften an 
die Presse 
508 DIE UNTERZEICHNUNG 
aufspritzte. In ergreifender Weise habe der gute alte Herr an die vielen und 
teuren Erinnerungen appelliert, die ihn mit Rußland verbänden, an die 
Freundschaft seiner beideu Eltern mit Alexander I., an seine eigene 
lebenslängliche Freundschaft mit Nikolaus I., an die treue Anhänglichkeit, 
die ihm sein Neffe, Alexander II., stets bewiesen habe. Er habe aber dabei 
nachdrücklich betont, daß sein Widerstand gegen eine so unvermittelte 
und rasche Schwenkung unserer Politik durchaus nicht allein auf sen- 
timentale Reminiszenzen noch überhaupt auf Gefühlsmomente zurück- 
zuführen sei. „Bei guten Beziehungen mit Rußland sind wir alles in 
allem et tout bien pes& überwiegend gut gefahren“, habe der Kaiser mehr- 
mals wiederholt. Stolberg fügte hinzu: „Bei aller meiner Freundschaft für 
Österreich, wo ich mich als Botschafter sehr wohl gefühlt habe, konnte ich 
mich doch nicht des Eindrucks erwehren, daß aus den Ausführungen 
unseres alten Herrn eine in sechzigjähriger Erfahrung gereifte Weisheit 
sprach.“ Endlich, am 15. Oktober, unterzeichnete Kaiser Wilhelm 1. 
das Bündnis mit Österreich. Kurz nach der Unterzeichnung äußerte er in 
bitterer Stimmung zu seinem treuen Flügeladjutanten, dem Grafen 
Heinrich Lehndorff: „Wenn ich an meinen Schwager Nikolaus, an meine 
Schwester Charlotte, an Tauroggen, an Kalisch und Breslau, an Möckern, 
an Groß-Görschen, Bautzen, Kulm, an die Völkerschlacht bei Leipzig, 
wenn ich an all das zurückdenke, so komme ich mir wie ein Pleutre vor.“ 
Nach seinem Grundsatz, daß, wenn Not am Mann ist, alle Hunde 
Laut geben müßten, hatte Fürst Bismarck, um den Widerstand des alten 
Kaisers zu überwinden, einen gewaltigen Pressesturm organisiert. Ich wurde 
in dem zu diesem Zweck eingerichteten außerordentlichen Preß-Dezernat 
beschäftigt, das Radowitz leitete. Der Zweck des ganzen Presselärms war 
nicht, die Russen einzuschüchtern oder die Österreicher zu erfreuen. Der 
alte Kaiser sollte den Eindruck gewinnen, daß das ganze Land, von der 
Maas bis an die Memel, das Bündnis mit Österreich gutheiße und wünsche. 
Zu diesem Zweck verfaßten wir, Radowitz, der kleine Professor Aegidi, 
der geistvolle und feine Legationsrat Rudolf Lindau und ich, Zuschriften 
aus allen Teilen von Deutschland, die dem Kaiser als Ausdruck der 
öffentlichen Meinung und Stimmung vorgelegt wurden. Bei großer Weisheit, 
bei gesundem Menschenverstand, bei Klugheit und Scharfsinn in vielen 
Fragen stand Wilhelm I. dem modernen Pressetreiben und publizistischen 
Unfug beinahe naiv gegenüber. Er glaubte wirklich die Stimme des Landes 
zu hören, wenn die von uns fabrizierten Korrespondenzen ihm vorgelegt 
wurden. Wenn wir sie vom Rhein datierten, so ergingen wir uns in be- 
sorgten Wendungen darüber, daß, wenn das Bündnis nicht zustande käme, 
der grüne Rheinstrom vor französischen Überfällen nicht mehr sicher sein 
würde, was von Mannhein bis Düsseldorf Beunruhigung hervorriefe. In
	        
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