EINS IST NOT oll
küßte meiner Mutter die Hand und verließ die Villa. Nach Berlin zurück-
gekehrt, ließ er mich zum Abendessen zu sich einladen. Mit der ihn nie
verlassenden Natürlichkeit stellte er zunächst fest, daß er sich nicht
erinnere, seitdem er Minister geworden wäre, außerhalb seiner Familie
einen Krankenbesuch abgestattet zu haben. „Jedenfalls keinem meiner
Kollegen!“ Er habe meinen Vater weniger schlimm gefunden, als er ge-
fürchtet habe. Er sei guter Hoffnung für ihn. Er sei überzeugt, daß mein
Vater aus Cannes, das er ihm als sein Reiseziel bezeichnet habe, zu unser
aller und insbesondere zu seiner Freude ganz wiederhergestellt nach Berlin
zurückkehren werde. Am nächsten Tage empfing mein lieber Vater aus
den Händen des seit unserer Übersiedlung nach Berlin mit uns befreundeten
Generalsuperintendenten Büchsel das heilige Abendmahl.
Am 17. Oktober fuhr mein Vater mit meiner Mutter, meinem jüngsten,
damals vierzehnjährigen Bruder Fritz und mit mir nach Frankfurt a.M.,
wo wir vor der Weiterreise nach Cannes übernachten wollten. Von so vielen
Berliner Freunden und Bekannten war bei unserer Abfahrt nur einer an der
Bahn, der Abgeordnete Eduard Lasker. Mein Vater drückte ihm die
Hand mit den Worten: „Es rührt mich und es freut mich, daß gerade Sie
gekommen sind, denn wir sind im Leben ziemlich verschiedene Wege
gegangen.“ Lasker erwiderte mit einfacher und aufrichtiger Herzlichkeit:
„Ich habe Eure Exzellenz stets verehrt und wollte Ihnen das durch mein
Kommen zeigen und eine gute Reise und frohe Rückkehr wünschen. Was
uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennte.“
Während der Fahrt nach Frankfurt schlummerte mein Vater viel, da-
zwischen aber unterhielt er sich mit meiner Mutter und mit mir klar und
gefaßt wie in seinen besten Tagen. Er sagte zu mir: „Vieles, was mich im
Leben beschäftigt oder gar erregt hat, erscheint mir heute ziemlich
unerheblich, verglichen mit dem einen, was nottut und was unser Herr Jesus
Christus der guten Martha ans Herz legte.“ Meine Mutter lächelte weh-
mütig, weil mein Vater sie oft mit Martha verglich, die viel Sorge und Mühe
hatte. „Eins ist not‘‘, wiederholte mein Vater mehrfach, „daß der Wille
werde stille und die Liebe heiß und rein.‘ Bevor wir in Frankfurt ankamen,
beauftragte mich mein Vater, einen recht schönen Blumenstrauß bei einem
ihm aus seiner Frankfurter Zeit bekannten Blumenhändler für meine
Mutter zu bestellen, die am nächsten Tage, dem 18. Oktober, ihren
Geburtstag feierte.
In der Nacht zum 18. Oktober wurde er von einem Schlaganfall gerührt.
Als wir an sein Bett traten, hatte er Bewußtsein und Sprache schon
verloren. Der herbeigerufene Arzt erklärte seinen Zustand für hoffnungslos.
Mein Vater schien nicht zu leiden. Erst am 20. Oktober, in der Frühe,
verschied er. Der Ausdruck seiner Züge war friedlich, die große, schön
Bülows
Vater stirbt