LE£onille
Wittgenstein
Baron
Völderndorff
514 IN DER PARISER BOTSCHAFT
Kaiser und König in treuer Erinnerung an ihren seligen Mann ihren zweiten
Sohn, den Premierleutnant im 1. Garde-Ulanen-Regiment Adolfvon Bülow,
zum persönlichen Adjutanten des Prinzen Wilhelm von Preußen, des der-
einstigen Trägers der Krone, bestimmt habe.
Als ich in Paris eintraf, forderte mich in seiner gütigen Weise mein Chef,
der Fürst Hohenlohe, auf, bei ihm in der Botschaft zu wohnen, da es mir
in meiner Trauer erwünscht sein würde, ruhig und unabhängig zu leben,
was mir unter seinem Dach am leichtesten möglich sein würde. In seinem
Hause weilten seine Schwiegermutter, Fürstin Leonille Wittgenstein,
und sein jüngster Sohn, der damals siebzehnjährige Prinz Alexander. Ich
denke gern an die stillen Abende zurück, die ich im Winter 1879/80 dort
verlebte. Die Fürstin L£eonille, die zweite Gemahlin des Fürsten Ludwig zu
Sayn-Wittgenstein, war eine bedeutende Frau. Von Geburt Russin, eine
Prinzessin Bariatinsky, war sie aus innerer Überzeugung zur katholischen
Kirche übergetreten, an der sie mit Leidenschaft, aber ohne Unduldsamkeit
und Engherzigkeit hing. Sie ist mir bis zu ihrem erst 1918, in ihrem hundert-
unddritten Lebensjahr erfolgten Tode eine gütige Freundin und Gönnerin
geblieben.
Ein anderer Gast des Fürsten Chlodwig Hohenlohe war in diesem Winter
einer seiner früheren Vortragenden Räte, der Freiherr von Völderndorff,
ein ungewöhnlich kluger und gebildeter Beamter, der auch literarische
Neigungen besaß und eine Reihe interessanter Essays kulturbhistorischen
Inhalts verfaßt hatte. Ich ging oft mit ihm in den Chanıps-Elysees spazieren.
Als wir einmal über die Place de la Concorde schritten, unterhielten wir uns
über die deutsche innerpvlitische Lage und die Schwierigkeiten, die selbst
einem so großen Staatsmann wie dem Fürsten Bismarck der Unverstand
und die Kleinlichkeit der deutschen Fraktionen bereiteten. „Was soll erst
aus uns werden, wenn früher oder später der Fürst Bismarck nicht mehr da
sein wird ?° meinte ich. Baron Völderndorff erwiderte mir, daß das Schicksal
eines Volkes von über vierzig Millionen, dessen Bevölkerung überdies
beständig zunehme, nicht auf einen einzigen Menschen gestellt werden
dürfe, selbst wenn dieser Mensch so groß, so genial wäre wie unser Bismarck.
„Aber wer soll ihn ersetzen?“ frug ich weiter. „Ich sehe niemand.“
Völderndorff meinte, daß niemaud den Fürsten Bismarck ersetzen könne
noch werde. Wir müßten aber lernen, uns auch ohne einen solchen Titanen
zu behelfen. Wenn uns in nächster Zeit das große, das sehr große Unheil
treffen sollte, Bismarck zu verlieren, so würde wohl Fürst Chlodwig
Hohenlohe der gegebene Nachfolger sein. In dem Augenblick, wo wir den
Pont dela Concorde betraten, fuhr nach einigem Besinnen Baron Völderndorff
fort: „Und auch für später weiß ich einen Nachfolger, nicht für heute, aber
in zwanzig Jahren, Sie selbst.“ Ich erwiderte: „Ich habe Sie bisher für