Gambettas Tod
Die Leichen-
feier
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radikalen äußersten Linken und der Rechten zustande gebracht hatte.
Freycinet, der nicht ohne Absicht einen gewissen Gegensatz zu Gambettas
mehr selbstherrlichem Auftreten markierte, stellte sich der Kammer mit
einer demütigen Rede vor, in der er erklärte, daß die neue Regierung voll
„deference“ für die Volksvertretung sei, ohne die sie „nichts vermöchte“.
Einige Wochen nach seinem Sturz ließ mich Gambetta zu sich bitten.
Ich fand ihn in weit heitererer Stimmung, auch besser aussehend als bei
jenem Diner auf der Deutschen Botschaft während seiner Ministerzeit.
Lächelnd sagte er zu mir: „Es ist nett von Ihnen, daß Sie einen Toten be-
suchen. Ich bin allerdings nur scheintot. Ich gedenke es zu machen wie
Lazarus, der nach einiger Zeit aus seinem Grabe auferstand, zu nicht
geringem Erstaunen seiner Schwestern Maria und Martha. Ich bin erst
vierundvierzig Jahre alt. Ich habe die Zukunft vor mir.“ So Gambetta
im März 1882. Victor Hugo hat gesagt: „L’avenir est a Dieu.‘‘ Leon Gam-
betta hatte das ‚‚Media in vita‘ nicht in sein Kalkül eingestellt. Er starb,
kaum ein Jahr nachdem er als Ministerpräsident gestürzt worden war. Mitte
Dezember 1882 verwundete er sich in seinem kleinen, bescheidenen Land-
haus in Ville d’Avray bei Paris. Über diesen Unfall kursieren noch heute
allerhand Märchen. Der Sachverhalt, wie er mir unmittelbar nach dem Tode
Gambettas von mehreren seiner Freunde übereinstimmend erzählt wurde,
war viel weniger romantisch. Gambetta liebte seit über zehn Jahren eine
anmutige und kluge Frau, Madame Leonie Leon, die seit langem von
ihrem Gatten geschieden war. Sie hatte sich in Gambetta verliebt, als sie
Anfang 1870 seiner hinreißenden Rede gegen das Plebiszit von der Galerie
des Corps l£gislatif gelauscht hatte. Gambetta hätte sie gern geheiratet. Sie
wollte aber als Katholikin keine zweite Ehe schließen, bevor ihre erste Ehe
durch den Päpstlichen Stuhl aufgelöst worden wäre, wozu keine Möglich-
keit vorlag. Während Gambetta im Garten seines Landhauses mit Madame
Leon spazierenging, entlud sich ohne jedes Zutun von seiner oder ihrer
Seite ein kleiner Revolver, den er in der Hand hielt. Die Kugel drang ihm in
die innere Handfläche und den Vorderarm. Während er wegen dieser Ver-
letzung das Bett hütete, ging eine chronische Blinddarmentzündung, an der
er seit Jahren laborierte, plötzlich in ein akutes Stadium über. Ein Eiter-
durchbruch führte zu einer allgemeinen Bauchfellentzündung, diese zum
Tode. Durch einen rechtzeitigen chirurgischen Eingriff hätte er, wie mir von
Ärzten sofort gesagt wurde, gerettet werden können. Er starb in der Neu-
jahrsnacht 1883.
Die Trauerfeier fand am 7. Januar statt. Ich habe selten eine imponie-
rendere Kundgebung mitangesehen. Wie bei der Leichenfeier für den armen
Werther in Goethes unsterblichem Roman, so folgteauch hier kein Geist-
licher, wohl aber Hunderttausende von Leidtragenden aus allen Parteien