ERLEBNIS 529
lauschte bewundernd der Mutter, als sie ohne Pedanterie, mit großer Natür-
lichkeit, aber mit unbeirrbarem Schönheitssinn mir dieses oder jenes Bild
zeigte, erläuterte und meinem Verständnis näherbrachte. Ich konnte mich
nicht sattsehen an den wunderbaren Augen, der zierlichen Gestalt, der
Grazie und Lieblichkeit der Tochter. Die Mutter verstand nicht Deutsch.
Die Tochter sprach das reizendste Deutsch, das ich je gehört hatte. Ich
überzeugte mich auf unserer stundenlangen Promenade erst durch die Säle
der wohl reichsten Bildergalerie der Welt, dann im Tuileriengarten, daß
sie Goethe und Schiller, Hölderlin und Kleist, daß sie Schopenhauer und
selbst Immanuel Kant fast besser kannte als ich. Ihren Enthusiasmus für
Richard Wagner, für Beethoven und Bach zu teilen, war ich nicht
würdig, da ich leider unmusikalisch bin. Aber ich respektierte ihre Be-
geisterung für die deutschen Meister. Sie gefiel mir als Deutschem sogar
sehr gut. Wir verabredeten uns für den Abend zu einem gemeinsamen
Diner im Cafe Brebant und dort zu einem Ausflug für den nächsten Tag
nach Fontainebleau.
Während wir durch die Säle des von König Franz I. erbauten Schlosses
gingen, über die Cour des Adieux und durch den herrlichen Wald, erzählte
mir Donna Laura Minghetti, daß ihre Tochter im Begriff stehe, sich von
ihrem Gatten, dem Grafen Karl Dönhoff, scheiden zu lassen. Madame
Minghetti betonte, daß die beiden Gatten sich keinerlei Vorwürfe zu
machen hätten. Graf Dönhoff sei ein vollkommener Galantuomo, ein vor-
nehmer und guter Mensch. Aber es habe sich mit der Zeit immer mehr
herausgestellt, daß die beiden Charaktere zu ungleich seien, um bei der
ohnehin vorhandenen Verschiedenheit des Alters wie der Nationalität eine
harmonische Ehe zu ermöglichen. Die Scheidung würde in beiderseitigem
Einverständnis in aller Stille erfolgen.
Als ich Madame Minghetti am Tage vor ihrer Abreise frug, wann sie und
ihre Tochter wieder nach Paris kommen würden, meinte sie, daß dies kaum
so bald der Fall sein dürfte. Sie gedenke aber Anfang September einige Tage
mit ihrer Tochter in Genua zu verleben. Ich bat die Gräfin Marie um die
Erlaubnis, ihr schreiben zu dürfen, und wir korrespondierten während des
Sommers eifrig miteinander. Sie schrieb, wie sie sprach: nie banal und nie
konventionell, weder gesucht noch absichtlich, immer natürlich. Ganz auf-
richtig, ganz wahr. Man fühlte, daß sie nur sagte und schrieb, was sie wirk-
lich empfand, daß sie nie Komödie spielte, daß Lügen und Schwindeln ihr
nicht nur widerwärtig, sondern einfach unmöglich war. Alles an ihr war
echt. So viel Herz, verbunden mit einem so reichen Geist, war ich noch nicht
begegnet. Zum erstenmal in meinem Leben empfand ich wirkliche Sehn-
sucht, wirkliches Hoffen und wirkliche Pein, wirkliche Freude und wirkliches
Leid, empfand ich wirkliche Liebe.
34 Bülow IV
In Fon-
tainebleau
Briefe nach
Genua