Von Cavour
bis Saracco
536 PIO NONO UND DIE JESUITEN
scheiterte, hatte sich Minghetti in das Privatleben zurückgezogen und
mehrere Jahre nur der Bewirtschaftung seiner Güter und seinen national-
ökonomischen und literarischen Studien gelebt. Er erzählte gern, daß, als
Pius IX. Mitte der fünfziger Jahre, zwischen der Revolution von 1848/49
und dem Französisch-Piemontesisch-Österreichischen Krieg 1859 Bologna
besuchte, er Minghetti zu sich bitten ließ und ihn mit alter Güte und Herz-
lichkeit empfing. Bevor er ihn ersuchte, Platz zu nehmen, guckte der Papst
hinter alle Gardinen und meinte dabei lachend mit italienischer Natürlich-
keit und Bonhommie: „Ich sehe nach, ob sich hinter den Gardinen nicht
etwa ein Jesuit versteckt hat, um unser Gespräch zu belauschen. Die
Jesuiten haben manche gute Eigenschaft, aber neugierig sind sie sehr. Ich
würde mich nicht wundern, wenn ich im Cesso einmal einen Jesuiten
entdecken würde.‘ Der Cesso ist jener verschwiegene Ort, wohin selbst der
Hochstehendste sich allein zu begeben pflegt. Minghetti hatte sich vergebens
bemüht, Pius IX. zu einer Versöhnung mit der italienischen Nationalidee
zu bewegen. Eine solche gütliche Verständigung war wie das Ideal so die
Sehnsucht vieler ausgezeichneter Italiener: Gioberti, Azeglio, Tosti,
Manzoni, Cesare Cantu, Rosmini.
Marco Minghetti blieb bis zu seinem Lebensende glühender italienischer
Patriot und gläubiger Katholik. Er war 1859 Generalsekretär Cavours
geworden, 1860 mit ihm Minister des Innern. Er hatte am 6. Juni 1861 am
Sterbebette von Cavour gestanden und gehört, wie der größte italienische
Staatsmann, einer der größten Staatsmänner aller Zeiten, dem Mönch, der
ihm die Sterbesakramente reichte, die von mir früher schon erwähnten
Worte zurief: ,„‚Frate, frate, libera chiesa in libero stato!““ 1863 bis 1864
und dann wieder von 1873 bis 1876 war Minghetti selbst Ministerpräsident
gewesen. Er war 1864 von den Piemontesen gestürzt worden, weil er durch
die Septemberkonvention mit Napoleon III. die italienische Hauptstadt
von Turin nach Florenz verlegt hatte. 1876 stürzten ihn die Florentiner. Sie
waren erbost darüber, daß Florenz durch den Aufwand, den es als Haupt-
stadt getrieben hatte, in Schulden geraten war. So schwer ist es, die Völker
zufriedenzustellen. Mein genialer Kollege Johannes Miquel pflegte, wenn
im preußischen Staatsministerium über eine zu ergreifende Maßnahme
beraten wurde, mit sarkastischem Lächeln zu sagen: „Wir mögen es an-
fangen, wie wir wollen, gescholten werden wir doch.“ Minghetti hatte auch
nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident seine große politische Stellung
bewahrt. Er wurde von allen Parteien geachtet, auch von den Ministern der
Linken, von Crispi, Depretis, Nicotera, Saracco, die der König Victor
Emanuel II. nach Minghettis Sturz ans Ruder gerufen hatte. Minghetti galt
für den größten italienischen Redner seiner Zeit. Er sprach meist aus dem
Stegreif, aber immer in vollendeter Form. So mag Cicero gesprochen haben,