Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DREI MONARCHEN 569 
achtzehnten Jahrhundert wurde Thorn der Schauplatz ciner der tiefsten 
Demütigungen des deutschen Volkes und gleichzeitig einer der abscheu- 
lichsten Freveltaten der Geschichte. Hier wurden auf dem Marktplatz der 
wackere Bürgermeister Rösner und neun ebenso unschuldige, ehrenwerte 
deutsche Ratsherren enthauptet, weil Schüler des evangelischen Thorner 
Gymnasiums, von Schülern des polnischen Jesuitenkollegiums immer 
wieder provoziert, sich endlich zur Wehr gesetzt hatten, was zu einem Tu- 
multe führte, in dessen Verlauf die zur Verzweiflung getriebenen deutschen 
Bürger das Jesuitenkollegium, den Sitz ihrer Bedrücker und Peiniger, ge- 
stürmt hatten. Gleichzeitig mit dem Justizmord an Rösner und seinen 
Ratsherren wurde die Thorner evangelische Hauptkirche den Evange- 
lischen entrissen und den Katholiken übergeben, das evangelische Gymna- 
sium eine Meile vor die Stadt verlegt. Und jetzt, während ich diese Zeilen 
diktiere, schmachtet die alte deutsche Stadt Thorn wieder unter dem bar- 
barischen Joche der Polen. 
Am Abend des 15. September fand im Schloß von Skierniewice eine 
Galatafel statt. Unser alter Herr saß zwischen dem Zaren und dem Kaiser 
Franz Josef. Man konnte sich keine reiner slawische, keine russischere 
Physiognomie und Erscheinung denken als Alexander III. „Wenn Sie 
dem Kaiser Alexander III.‘“, meinte der Botschafter von Schweinitz, 
„einen Bauernrock anziehen, das über der Hose getragene Bauernhemd 
und Schuhe aus Lindenbast, sieht er aus wie jeder andere russische Bauer.“ 
Und. dabei hatte Alexander III. keinen Tropfen russisches, sondern nur 
deutsches Blut in den Adern. Ich füge hinzu, daß die englische Königs- 
familie, die gleichfalls rein deutscher Abstammung ist, ganz englisch aus- 
sieht. L’influence du milieu ist also oft entscheidender als die ererbte Rasse. 
Während bei der Galatafel in Skierniewice Alexander III. aussah, als ob er 
kaum den Augenblick erwarten könnte, wo man aufstehen würde, machte 
Kaiser Franz Josef einen müden, stumpfen Eindruck. Seine glanzlosen 
Augen blickten über den Tisch hinweg ins Weite. Woran dachte der Habs- 
burger? Dachte er daran, daß er einst, kaum neunzehn Jahre alt, mit rus- 
sischer Hilfe die rebellischen Magyaren unterworfen, mit russischer Rücken- 
deckung die Piemontesen besiegt und Preußen gedemütigt hatte? Dachte er 
daran, daß er während des Krimkrieges die russische Unterstützung mit 
Undank belohnt und damit die vom Krimkrieg bis zur Drei-Kaiser- 
Begegnung von 1872 für Habsburg und die habsburgische Politik unfreund- 
liche Haltung Rußlands hervorgerufen hatte? Dreiunddreißig Jahre 
älter als Franz Josef, achtundvierzig Jahre älter als Alexander III., 
erschien Kaiser Wilhelm in seiner Ruhe und Weisheit wie der Patriarch 
der großen europäischen Familie, der allen, den Herrschern und den 
Völkern, ein Vorbild und ein Führer sein konnte. 
Galatafel in 
Skierniewice
	        
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