Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

MINISTER UND NIHILISTIN 573 
Horaz und Thukydides ausgesetzt gewesen sei. Er hoffe, daß in dem ge- 
lehrten Deutschland für seine Ideale auf dem Gebiete des Unterrichts- 
wesens mehr Verständnis vorhanden sein werde als in Rußland. Als ich 
mich als überzeugter Anhänger des humanistischen Gymnasiums bekannte, 
was ich übrigens wirklich war und heute noch bin, war das Eis gebrochen. 
Graf Tolstoi kam bald spontan auf die innere russische Lage. Er erzählte 
mir nicht ohne Humor, daß er einige Wochen früher eine geistig hoch- 
stehende Nihilistin, Fräulein Vera Figner, die Tochter eines Generals, im 
Kerker besucht habe. Als rührige und tapfere Agentin des nihilistischen 
Exekutivkomitees sei diese Dame direkt oder indirekt an vielen Atten- 
taten beteiligt gewesen. Er habe während zwei Stunden mit ihr diskutiert. 
„Vous savez, nous autres Russes nous adorons bavarder.‘‘ Als er Fräulein 
Figner verließ, habe er ihr gesagt: „Ich bedaure, Vera Petrowna, Sie 
jetzt verlassen zu müssen. Wenn ich noch zwei Stunden bleiben könnte, 
würde ich Sie zu staatstreuen Ideen bekehren.‘“ Sie habe ihm schlagfertig 
erwidert: „Und ich bedaure erst recht Ihr Fortgehen, Dmitri Alexandro- 
witsch. Denn wenn Sie mir noch zwei Stunden gewidmet hätten, würde ich 
Sie für meine Ideale gewonnen haben.“ 
Der Minister schloß an diese pikante Erzählung eine in ihrer Weise kluge 
und jedenfalls durchdachte Auseinandersetzung über russische Zustände. 
Er bestritt nicht, daß in Rußland die reine Autokratie auf die Länge kaum 
haltbar wäre. Aber der westeuropäische Parlamentarismus eigne sich noch 
weniger für Rußland. Das russische Volk würde mit einem solchen ebenso- 
wenig umzugehen wissen wie ein großer und täppischer Bauer mit einem 
zierlichen Kinderspielzeug. Graf Tolstoi sagte mir, und ich habe viele Jahre 
später, nach dem Ausbruch der russischen Revolution, bisweilen daran 
gedacht: ‚‚„Jeder Versuch, westeuropäische, parlamentarische Regierungs- 
formen in Rußland einzuführen, wird scheitern. Wenn das zaristische 
System, das trotz seiner Mängel und Schwächen, die ich zugebe, seit Jahr- 
hunderten Rußland zusammenhält, gestürzt werden sollte, wird der 
Kommunismus an seine Stelle treten, der nackte, blanke Kommunismus, 
le communisme pur et simple, le communisme de Mr. Karl Marx a Londres, 
qui vient de mourir et dont j’ai etudie attentivement et avec interet les 
theories.‘“ Der Minister fuhr fort: „Sie fragen immer wieder, ob ich wirklich 
glaube, daß die jetzige russische Regierungsweise, deren Mängel klar 
zutage liegen, sich dauernd aufrechterhalten lassen würde. Nein! Gewiß 
nicht! Aber außer einem utopischen und für Rußland ganz ungeeigneten 
Parlamentarismus und einem alles zerstörenden und verwüstenden 
Kommunismus gibt es noch ein Drittes: der Ausbau der Semstwos. Sie 
fungieren seit zwanzig Jahren als Kreis- und Landesvertretungen in den 
altrussischen Gouvernements. Die Mitglieder dieser Land- und Kreistage 
Zarismus und 
Parlamenta- 
rismus
	        
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