Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

EIN STERN DER PETERSBURGER GESELLSCHAFT 575 
johanneisch genannt. Der Orthodoxe ist weich und nachgiebig, er möchte 
Millionen umschlingen und die ganze Welt küssen.“ Als ich ein ungläubiges 
Lächeln nicht unterdrücken konnte, fuhr Pobjedonoszew mit erlwbenen 
Armen und mit dem schwärmerischen Blick des von seiner Mission durch- 
drungenen Apostels fort: „Es ist so! Es ist wirklich.so! Sehen Sie doch, wie 
sich Millionen Rechtgläubiger durch die listigen Jesuiten zur Union mit der 
römischen Kirche und damit zur Untreue gegen ihre eigene Kirche haben 
verführen lassen! Welche Mühe müssen wir uns geben, um sie wieder für 
unsere Kirche zu gewinnen! Sehen Sie, wie Hunderttausende russischer 
Bauern,weil ihnen einige Exemplare eines protestantischen Andachtsbuches, 
der von Heinrich Zschokke verfaßten ‚Stunden der Andacht‘, in die Hände 
gefallen waren, von der Orthodoxie abfielen und eine Sekte gründeten, die 
Stundisten, die uns noch heute zu schaffen machen, die wir vor Gott, dem 
Zaren und Rußland die Verantwortung für die Glaubenseinheit und 
Glaubensreinheit des russischen Volkes tragen. Der Russe ist so weich an- 
gelegt und so nachgiebig, daß nur mit konsequenter Strenge, wenn es sein 
muß nmıt Härte, die von Gott gewollte religiöse Einheit Rußlands ver- 
teidigt, aufrechterhalten und gesichert werden kann.“ 
Mein Chef, General von Schweinitz, hatte recht gehabt, mich auf die 
große gesellschaftliche und damit nach Lage der Dinge auch politische 
Stellung hinzuweisen, die im alten Petersburg die Frauen einnahmen. Die 
erste Leading Lady, die ich kennenlernte, war die Gräfin Marie Klein- 
michl, geborene Gräfin Keller. Tochter eines deutsch-russischen Vaters 
und einer serbisch-polnischen Mutter, war sie ganz und gar und nur 
Petersburgerin. Nur die Petersburger Luft bekam ihr. Nur in Petersburg 
war ihr wirklich wohl. Nur Petersburger Vorgänge interessierten sie. Es war 
später eine grausame Fügung des Schicksals, daß diese kluge und liebens- 
würdige Frau durch die Bulschewisten gezwungen worden ist, ihr Leben im 
Ausland zu beschließen, nachdem man ihr ihre Güter, ihr Petersburger 
Palais und ihr Landhaus auf den Inseln, ihre Datsche, geraubt und sie 
buchstäblich bis aufs Hemd ausgezogen hatte. Damals, 1884, glänzte sie 
noch als Stern am gesellschaftlichen Himmel. Ich habe aus ihrer Kon- 
versation manches gelernt. Sie machte mir klar, daß Rußland im Kern 
demokratisch wäre. Ein kleines Beispiel: Sie hatte sich mit ihrem Schwager, 
einem Grafen Kleinmichl, überworfen, dagegen stand sie gut mit einem 
Vetter, einem Fürsten Dolgorukij. Beide bewarben sich um das Amt des 
Adelsmarschalls in ihrem Kreise. Die Gräfin Kleinmichl lud die einfluß- 
reichsten Adligen des Kreises zu sich ein. Sie sagte ihnen: „Ihr steht vor 
der Wahl zwischen einem Kleinmichl und einem Dovlgorukij. Es ist mir 
peinlich, es euch sagen zu müssen, aber die Wahrheit ist, daß die Familie 
Kleinmichl von einem finnischen Lakaien abstamnıt, während die Dolgorukijs 
Gräfin 
Kleinmichl
	        
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