EINER, DER GOETHE BESUCHTE 45
der unglücklichen Königin Marie Antoinette sehr nahegestanden hatte.
Wegen seiner offen zur Schau getragenen Sympathien für Deutschland, er
war ein persönlicher Freund von Ernst Moritz Arndt, wurde Wolf Baudissin
1813 von der französisch gesinnten dänischen Regierung als Staatsgefan-
gener zweiten Grades ein Jahr auf der Feste Friedrichsort bei Kiel interniert.
Mit Spannung lauschte ich meinem Onkel, wenn er von den Spazier-
gängen sprach, die er täglich auf dem Wall unternehmen durfte, aber nur
in Begleitung einer Schildwache. Wird man mich, wenn ich selbst einmal
Diplomat werden sollte, am Ende auch auf einer Festung einsperren ? Mein
Großonkel Wolf hatte Trost in der Übersetzung des Dante gefunden, die er
während seiner Haft fertigstellte. Noch lieber hörte ich, wenn mein Onkel
von dem Besuch erzählte, den er Pfingsten 1809 als Göttinger Student
Goethe in Jena abgestattet hatte, wo dieser damals weilte. In einem Brief,
den er an seine Schwester, meine Großmutter, richtete, hat er die Be-
gegnung mit Goethe lebendig und anmutig geschildert. Er berichtet, wie
er den Ersehnten, mit der Ungeduld eines Kindes am heiligen Christtag,
erwartet habe. ‚„‚Und als er endlich eintrat“, heißt es weiter, „im blauen
Überrock, gepudertes Haar ohne Zopf, war ich in einem solchen Erstaunen
und Anbeten, daß ich meine Blödigkeit rein vergaß. Stirn, Nase, Augen
wie vom olympischen Jupiter, die schönen Züge, die herrliche braune Ge-
sichtsfarbe! Und als Goethe anfing, lebhafter zu erzählen und zu gestiku-
lieren — man kann keine schönere Hand sehen als die seinige, und er
gestikulierte beim Gespräch mit einer entzückenden Grazie und mit Feuer,
und dabei wurden die Sonnen seiner Augen noch einmal so groß und leuch-
teten so göttlich, daß ihre Blitze nicht zu ertragen sein können, wenn er
zürnt. Seine Aussprache ist die eines Süddeutschen, der sich in Nord-
deutschland gebildet hat. Er spricht leise, aber mit einem herrlichen Organ,
weder zu schnell noch zu langsam. Und wie tritt er in die Stube, wie steht
und geht er, ein geborener König der Welt!“ Als Baudissin mit jugendlichem
Überschwang meinte, wenn Zelter und Forkel stürben, würde wohl die
ganze Kunst der Musik untergehen, tröstete Goethe: „Das echt Schöne geht
nie unter, sondern lebt immer in der Brust weniger Guten, unauslöschlich
wie das vestalische Feuer.‘ Auf die zweistündige Unterredung folgte am
nächsten Tage ein Spaziergang in dem botanischen Garten. Goethe rühmte
die Fichteschen Reden an die deutsche Nation, besonders ihren schönen
Stil, und er sagte von den Deutschen: „Brennholz ist in dieser Zeit ihnen
recht brav eingeheizt, aber es fehlt an einem tüchtig zusammenhaltenden
Ofen.“ Den tüchtig zusammenhaltenden Ofen sollte erst ein halbes Jahr-
hundert später Bismarck der deutschen Nation bauen.
Wolf Baudissin hat sich wie seine Gesundheit und seine Arbeitskraft, die
Stärke seines Geistes und seine immer gleich heitere Laune so auch seinen