Am Bett des
Kaisers
Friedrich
618 IN EINEM STERBEZIMMER
alten Kaisers zum Abendessen gebeten, damit wir diesen wehmütigen Tag
mit ihnen verlebten, von denen wir wüßten, mit wie treuer und ehrer-
bietiger Liebe sie an ihrem Großonkel gehangen hätten. Eine nicht geringe
Anzahl russische Damen gaben mir vor meiner Abreise Briefe mit, die ich
jenseits der Grenze in den Briefkasten stecken sollte. Sie waren alle nach
Genf und Bern adressiert. Ich möchte annehmen, daß manche dieser Briefe
für die Vorläufer jener Exulanten bestimmt waren, die dreißig Jahre später
die Macht in Rußland an sich rissen.
In Berlin galt der erste Gang meiner Frau der Kaiserin Friedrich.
Sie fand die arme Kaiserin in Tränen, in Verzweiflung. Sie hatte endlich
verstanden, daß ihr Mann verloren war. Ihre Unpopularität, die ihr von
allen Seiten und zum Teil in brutaler, häßlicher Form fühlbar gemacht
wurde, erhöhte den Schmerz um das tragische Geschick ihres Gemahls.
Ich glaube, daß wenige Frauen gelitten haben, was die Kaiserin Friedrich
in jenen neunundneunzig Tagen gelitten hat. Sie führte meine Frau an das
Bett des Kaisers. Meine Frau kniete vor dem Bett nieder und küßte die
Hand des Kaisers. Dieser wies mit seiner anderen Hand und mit einem
unbeschreiblich rührenden Blick nach oben, dahin, wo es kein Leid mehr
gibt und alle Tränen getrocknet werden. Mit kaum verständlicher Stimme
flüsterte er einige Worte, die die Kaiserin meiner Frau dahin erläuterte, ihr
Gemahl habe sich gefreut, meine Ernennung nach Bukarest zu vollziehen.
Als meine Frau ging, legte der Kaiser segnend seine Hand auf ihren Kopf,
indem er nochmals nach oben wies. Als die Kaiserin mit meiner Frau das
Krankenzimmer verließ, brach sie im Nebenzimmer in konvulsivisches
Schluchzen aus. Eine starke Natur, wie sie war, wollte sie ihre innere Ver-
zweiflung nicht ihrem Gemahl zeigen, um ihn nicht noch mehr zu betrüben.
Die Kaiserin stellte selbst meine Frau ihrer Mutter, der Königin Victoria,
vor, die kurz vorher in Charlottenburg eingetroffen war. Die Königin
sprach über das Leid ihrer ältesten Tochter und ihres von ihr sehr geliebten
Schwiegersohnes mit echtem Gefühl, einfach und ganz menschlich. Meine
Frau hat diese Stunde im Sterbezimmer des Kaisers Friedrich als die
ergreifendste ihres Lebens in unauslöschlicher Erinnerung behalten.
Wenn die Königin Victoria sich bei dem rein familiären Charakter ihres
Berliner Aufenthalts auch von allen offiziellen Begegnungen zurückhielt,
so ließ sie sich doch die Gelegenheit nicht entgehen, den Fürsten Bismarck
zu sehen. Sie hatte sich für ihn von jeher interessiert und ihre Vertreter in
Berlin oft gefragt: „What does Prince Bismarck think about me?“ Der
große Seelenfänger Bismarck behandelte die Königin eines Weltreichs ganz
so, wie der gleich feine Psychologe Disra&@li sie behandelt hatte, nämlich als
Frau, deren hohen Eigenschaften und Tugenden, deren Geist und Charme
jeder huldigen müsse, der ihr nahen dürfe. Nach der Audienz des Reichs-