BISMARCK UND DIE MACHT 631
einem irgendwie ‚pikierten® Abgange infolge innerer oder äußerer Schwierig-
keiten hätte dann den Charakter einer Kapitulation des Königtums vor
einem Untertan, und davor sollte die preußische Krone bewahrt bleiben.
Ein Reichskanzler darf nicht, wıe der Friedländer nach der Schlacht von
Breitenfeld, in einem Augenblick der Not mit vollständiger Carte blanche
wiederkehren. Schon um solchenMöglichkeiten vorzubeugen, die ein Novum
in unserer Geschichte sein würden, sollte nichts unterlassen werden, um
einen unfreiwilligen Rücktritt Seiner Durchlaucht zu verhindern,
Eine andere Frage ist, ob es nicht nützlich wäre, wenn sich der ein-
mal doch unvermeidliche Übergang von der seit achtundzwanzig Jahren
bestehenden Omnipotenz des Bismarckschen Genius zu dem früheren Sy-
stem des von dem Monarchen geleiteten, einigermaßen kollegialischen Mi-
nisteriums langsam und allmählich vollzöge. Dramatischer würde es ja sein,
wenn der Reichskanzler bis zu seinem letzten Tage im Vullbesitz der Macht
und einziger Träger der Regierungsgewalt bliebe und so mit ungeheurer
Wirkung die Erde verließe. Für unser Haus aber ist es besser, daß der
Haupttragepfeiler nicht plötzlich bricht und das Haus im Fall mit sich
reißt, sondern daß vorher rechtzeitig andere Säulen angebracht werden, die
einen Teil der Last auf sich nehmen und den Effekt des Verschwindens des
großen Pfeilers verringern. Den Reichskanzler nach und nach zu entlasten,
die Nation nach und nach daran zu gewöhnen, daß wir über kurz oder lang,
wir mögen wollen oder nicht, ohne diese phänomenale Erscheinung aus-
kommen müssen, ist für uns eine Lebensfrage. Auch wenn der Reichs-
kanzler sich durchaus nicht im Amte halten ließe, müßte alles aufgeboten
werden, damit wenigstens Herbert bliebe. Es würde das in den Augen des
Volkes dem eventuellen Rücktritt des Kanzlers zum Teil das Erschreckende
und jedenfalls das Verletzende nehmen. Es würde für den Reichskanzler
selbst ein Balsam wie eine Fessel sein und die einzig sichere Brücke bilden
zwischen ihm und dem Kaiser. Nur kein gleichzeitiger Rücktritt des Reichs-
kanzlers, Herberts und womöglich noch anderer, spezifisch Bismarckscher
Minister! Herbert zu halten, wäre, wie ich meine, nicht allzu schwer. Eine
tätige, eifrige, an Herrschen gewöhnte und das Herrschen liebende Natur,
würde er sich außerhalb des Auswärtigen Amtes wie ein Fisch auf dem
Trockenen fühlen. Beide, Vater und Sohn, sind fond of power. Beim Vater
mag das Alter eine philosophisch-resigniertere Auffassung hervorgerufen
haben, der Sohn wird sich, wie ich ihn kenne, nur sehr a contre c&ur zurück-
ziehen, besonders wenn ihm nicht die Wahl zwischen dem Staatssekretariat
und etwa der Londoner Botschaft gelassen wird, sondern nur die Wahl
zwischen dem Ministerium und Untätigkeit.
Diese allgemeinen Wahrheiten im Einzelfalle anzuwenden, ist freilich
schwierig, auch wo so viel Geschicklichkeit, Geduld und Selbstverleugnung
Entlastung
des Kanzlers?