Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE ARBEITERFRAGE 633 
können, wenn er beim Spiel zusieht oder einen Robber mit etwas Glück 
gespielt hat. Allmählich erkennt man aber, daß viel Übung und Spezial- 
kenntnis, ganz abgesehen von der Veranlagung, erforderlich ist. 
Über den Ausfall der Reichstagswahlen würde ich nur dann erschrecken, 
wenn man bei uns den Kopf verlöre, wovon ja Gott sei Dank keine Rede 
ist. Der Sieg der oppositionellen Parteien hat viele Ursachen. Daß bei uns 
neuerdings die Friedensschalmei gar so eifrig und intensiv geblasen wurde, 
trug wohl auch dazu bei. Dem Deutschen fehlt noch der reizbare National- 
stolz wie der geschulte politische Nützlichkeitssinn anderer Völker. Darum 
überläßt er sich gar zu gern rechthaberischem Trotz und naivem Doktrina- 
rismus, wenn ihm der Himmel ganz wolkenlos erscheint. Unsere innere und 
äußere Politik sollte trotz bester Friedensaussichten darauf zugeschnitten 
sein, daß uns das Ende des Jahrhunderts den entscheidenden Kampf für 
den monarchischen Nationalstaat bringen kann. Die sozialistische Be- 
wegung kann zum Absolutismus führen, zum Parlamentarismus hat sie 
selten geführt. Die Geschichte lehrt, daß sich oft in Zeiten hochentwickelter 
Zivilisation bei den Massen sozialistisch-kommunistische Tendenzen zeigten. 
Gesellschaft und Staat waren aber bisher noch immer stark genug, solche 
Bewegungen niederzuschlagen: Rom ist mit seinen Proletariern und Skla- 
ven, das Mittelalter mit den Bauern und Wiedertäufern, das moderne Frank- 
reich mit den Jakobinern wie mit der Kommune fertig geworden. Die Pferde 
mögen schlagen und beißen, wie sie wollen, am Ende kommen sie doch 
wieder vor den Wagen und bekommen wieder einen Kutscher, der sie mit 
Zügel und Peitsche lenkt. Es muß aber dafür gesorgt werden, daß dem 
Wagen und seinen Insassen inzwischen nichts Ernstliches passiert. Es 
kommt darauf an, daß bei einer eventuellen Repression das Staatswesen 
im Innern wie nach außen nicht zu großen Schaden nimmt, und am besten 
ist es, ohne solche Repressionen die Bewegung zu überwinden. Einen an- 
deren Weg als den bei uns eingeschlagenen gibt es nicht, nämlich einerseits 
großzügige reformatorische gesetzliche Maßnahmen, andererseits Unter- 
drückung gewaltsamer Auflehnung. Das eine schließt das andere nicht aus. 
Auch wenn ‚geknallt‘ werden müßte, sollte die Sozialreform keinesfalls auf- 
gegeben werden. Die Allerhöchsten Erlasse und Vorschläge in der Arbeiter- 
frage sind wohl die bedeutendste Maßnahme, die wir seit den Stein- 
Hardenberg-Reformen gesehen haben. Warum soll der Monarchie die Ein- 
renkung des vierten Standes in den Staatsorganismus nicht gelingen, wo 
sie am Anfang des Jahrhunderts unter noch schwierigeren Verhältnissen 
diejenige des dritten durchführte ? Hoffentlich wird auf dem eingeschlagenen 
Wege verständnisvoller und sorgsamer Behandlung der Arbeiter und Fort- 
führung der sozialen Fürsorge besonnen, vorsichtig, praktisch und vor 
allem stetig fortgeschritten werden. Stetigkeit ist überhaupt in der inneren 
Die sozia- 
listische 
Bewegung
	        
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