SEIN EIGENER KANZLER SEIN 637
der Behandlung der Sozialdemokratie mit Bismarck überworfen habe. Er
benutzte nur diese Meinungsverschiedenheit, um sich des unbequemen
„Hauslehrers‘‘, wie er in jener Zeit Bismarck im Gespräch mit Phili Eulen-
burg genannt hatte, zu entledigen. Bismarck war noch nicht lange fort-
geschickt, als der Kaiser von Caprivi ein schärferes Vorgehen gegen
die Sozialdemokratie verlangte. Er hat ein solches wieder und wieder
vom alten Fürsten Hohenlohe gefordert. Und während meiner Amtszeit
verging kein Jahr, wo nicht der Kaiser bald erregt, unwirsch und stürmisch,
bald in liebenswürdiger Form von mir ein gewaltsames Vorgehen gegen die
„Roten“ verlangt hätte. Ich habe ihm erwidert, daß, wenn er glaube, die
Sozialdemokratie müsse mit Gewalt unterdrückt werden, er sich nicht vom
Fürsten Bismarck hätte trennen dürfen. Ich wisse nicht, ob es dem Fürsten
Bismarck gelungen sein würde, die sozialdemokratische Bewegung aus-
zurotten, jedenfalls wäre er aber der einzige gewesen, der diesen Versuch
hätte unternehmen können.
Eine verschiedenartige Beurteilung der Rußland gegenüber ein-
zuschlagenden Politik hat bis zu einem gewissen Grade zum Sturz des
Fürsten Bismarck beigetragen. Der Kaiser wollte die deutsch-russischen
Beziehungen durch sein persönliches Eingreifen, häufige Besuche in Ruß-
land, gelegentliche Übersendung von Geschenken, schwungvolle Reden,
freundschaftliche Demonstrationen aller Art günstig beeinflussen. Der
Kanzler verließ sich mehr auf eine klug geleitete Politik und den von ihm
abgeschlossenen Rückversicherungsvertrag, der vor seiner Erneuerung
stand, die vom Kaiser Alexander und dem Minister Giers gewünscht
wurde. Dem Kaiser wurde von den Gegnern seines großen Ministers ein-
geredet, daß dieser gegenüber Rußland zu vertrauensselig sei. Unter dem
Einfluß von Waldersee ging der Kaiser so weit, dem Fürsten Bismarck
heftig und in ungezogener Form „Blindheit‘“ gegenüber der von Rußland
„furchtbar“ drohenden Gefahr vorzuwerfen. Holstein, damals in enger
Fühlung mit Waldersee, hatte dafür gesorgt, daß ein alarmierender Bericht
des Konsuls Raffauf in Kiew dem Kaiser in die Hand gespielt werden
konnte.
Der eigentliche, tiefste und wirkliche Grund, aus dem der Kaiser sich von
Bismarck trennte, war, daß er selbst Bismarck spielen, d.h. im Inland und
im Ausland die Stellung einnehmen wollte, die Bismarck jahrzehntelang
behauptet hatte. Das meinte wohl auch Bismarck, als er sagte, der Kaiser
wolle sein eigener Kanzler sein. Das meinte jedenfalls Wilhelm II., als
er wenige Tage nach der Beseitigung Bismarcks an seinen Erzieher Hinz-
peter telegraphierte: „Mir ist so weh, als hätte ich noch einmal meinen Groß-
vater verloren, aber von Gott Bestimmtes ist zu tragen, auch wenn man
darüber zugrunde gehen sollte. Das Amt des wachthabenden Offhiziers auf
Wilhelm II.
gegen die
Sozial-
demokratie
Die Be-
ziehungen
zu Rußland