Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Die Nicht- 
erneuerung 
des Rückver- 
sicherungs- 
vertrags 
638 ZWEI KUGELN STATT DREI 
dem Staatsschiff ist mir zugefallen. Der Kurs bleibt der alte. Volldampf 
voraus!“ Der Chef des Geheimen Zivilkabinetts, Herr von Lucanus, fürch- 
tete, es würde keinen guten Eindruck machen, wenn der Monarch eine so 
programmatische Kundgebung an seinen früheren Erzicher richtete. Des- 
halb wurde fingiert, daß der alte Großherzog Karl Alexander von Weimar, 
der Schwager des Kaisers Wilhelm I., der Adressat gewesen sei. 
So, wie der Bruch zwischen Kaiser und Kanzler erfolgte, bedeutete er ein 
schweres Unglück für das Deutsche Reich. Die Trennung hätte unter allen 
Umständen in würdiger Form erfolgen müssen, unter Wahrung der Ehr- 
furcht, auf die ein Mann wie Bismarck berechtigten Anspruch hatte, unter 
Vermeidung aller schädlichen und unnötigen Kränkung. Und vor allem: 
Bismarck durfte nur fortgeschickt werden, wenn der Kaiser entschlossen 
war, nach seinem Ausscheiden eine liberalere Richtung einzuschlagen, also 
wenn auch nicht sofort das parlamentarische System im westeuropäischen 
Sinne einzuführen, so doch sich einem solchen zu nähern. Auf die Diktatur 
Bismarck durfte nicht eine Diktatur Wilhelm II. folgen, denn Bismarck 
war ein Genie, Wilhelm II. war kein Genie. 
In unmittelbarem Zusammenhang mit der Verabschiedung des Fürsten 
Bismarck stand die Ablehnung der von Rußland gewünschten Erneuerung 
des Rückversicherungsvertrages, die Zerschneidung des Drahtes mit Ruß- 
land, wie Fürst Bismarck Jas genannt hat. Sie mußte um so ungünstiger 
wirken, als der Kaiser, kurz bevor die Entlassung des Fürsten Bismarck 
eine vollendete Tatsache geworden war, dem russischen Botschafter, dem 
Grafen Paul Schuwalow, persönlich und kategorisch erklärt hatte, er stünde 
ihm dafür ein, daß der deutsch-russische Vertrag mit oder ohne Bismarck 
erneuert werden würde. Umsonst insistierte Herr von Giers. Umsonst er- 
klärte er, daß, wenn wir die Erneuerung des Vertrages ablehnten, Kaiser 
Alexander III. sich gegen seine innere Neigung zum Bündnis mit der Fran- 
zösischen Republik genötigt sehen würde. Umsonst wies Schuwalow darauf 
hin, daß die Nichterneuerung des Vertrages, nachdem Kaiser Wilhelm II. 
sie versprochen habe, in Petersburg Bestürzung und äußerstes Mißtrauen 
hervorrufen müßte, jedenfalls auf Kaiser Alexander einen deplorablen Ein- 
druck machen und Rußland geradezu in die Arme der Französischen Re- 
publik treiben würde. Caprivi übersah nicht die Situation. Mit einer Be- 
scheidenheit, die vom moralischen Standpunkt aus vielleicht rührend war, 
aber dem Leiter eines großen Reiches nicht wohl anstand, meinte er, nach- 
dem ihm von Marschall und Holstein Vortrag gehalten worden war: „Bis- 
marck war imstande, mit drei Kugeln zu jonglieren, ich kann aber nur mit 
zwei Kugeln spielen.“ Es zeigte sich hier der Unterschied zwischen Soldat 
und Staatsmann. Der Soldat geht gerade und direkt auf sein Ziel los. Der 
Staatsmann kann sein Ziel oft nur auf Umwegen erreichen, mit Tempo-
	        
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