FRANCESCO CRISPI 653
wegen Teilnahme an einem Aufstand zu lebenslänglicher Galeerenstrafe
verurteilt worden. Von Garibaldi befreit, war er zum Abgeordneten gewählt
worden und nicht lange nachher Minister des Innern geworden. Sein mit
Würde getragenes Martyrium hatte ihn populär gemacht. Von allen Seiten
aufgegeben, hatte das Kabinett Giolitti Ende November 1893 seine De-
mission eingereicht. Erst nach vierzehntägigen mühsamen Verhandlungen
und nachdem eine Kombination Zanardelli gescheitert war, wurde Crispi
mit der Bildung eines neuen Ministeriums betraut.
Ich hatte in Berlin denjenigen, die an der politischen und fast noch mehr
an der wirtschaftlichen Zukunft Italiens verzweifelten, gesagt, daß ich
ihren Pessimismus nicht zu teilen vermöchte. Ich hatte Vertrauen zu dem
leidenschaftlichen Patriotismus und zu der politischen Elastizität des
italienischen Volkes, das im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, des
Jahrhunderts seines Risorgimento, noch ganz andere Schwierigkeiten über-
wunden habe. Die weitere Entwicklung hat mir recht gegeben. Crispi war
ein Staatsmann von großem Format: klar, zielbewußt, energisch, völlig
furchtlos. Sizilianer von Geburt, hatte er sich schon als Jüngling an den
Revolten der Patrioten gegen die Bourbonen beteiligt. Zum Tode ver-
urteilt, hatte er als Exilierter in kümmerlichen Verhältnissen auf Malta
und in Paris gelebt und weiterkonspiriert. An die Spitze der Regierung
seines Landes gestellt, wandte er sich gegen die aufständische Bewegung,
die es zu bewältigen galt, mit derselben Entschlossenheit, mit der er einst
als Verschwörer die Mißwirtschaft der Bourbonen bekämpft hatte. Er ver-
las in der Deputiertenkammer und im Scnat eine mutige Erklärung, in der
er an das Andenken von Garibaldi und Mazzini, an das Andenken „unserer
beiden Großen‘ appellierte und die Lage des Vaterlandes für so ernst er-
klärte „wie noch nie“. Die Macht des Gesetzes müsse gestärkt, die Finanzen
müßten reorganisiert und zu diesem Zwecke große Opfer vom Lande ver-
langt werden. Die materielle Einheit des Vaterlandes müsse gesichert, seine
moralische Einheit befestigt werden. Das Werk, das die neue Regierung
in Angriff nehme, sei das wichtigste seit dem Erlasse der nationalen Ver-
fassung von 1859. Am nächsten Tage proklamierte Crispi den Belagerungs-
zustand, verstärkte die Garnisonen in den Aufstandsgebieten und ließ zahl-
reiche Agitatoren verhaften. Zum Oberbefehlshaber auf Sizilien wurde der
tüchtige GeneralMorra ernannt, der Erzieher des Königs Viktor EmanuelIIl.
und spätere Botschafter in St. Petersburg. In den aufständischen Gebieten
mußten alle Waffen auf den Polizeiämtern abgegeben werden. Die Einfuhr
von Feuerwaffen wurde allgemein verboten. Bei Zusammenstößen zwischen
Militär und Aufrührern machte das Militär rücksichtslos von der Waffe
Gebrauch. Nicht nur in Sizilien, sondern überall, wo es zu Unruhen ge-
kommen war, in Massa und Carrara, in Bari, Ancona und Mantua, wurden
Crispis
Ministerium