DIE EINIGUNG ITALIENS 655
persönlichen Rankünen und Eitelkeiten, sondern nur dem Ruhm und der
Größe seines Vaterlandes. Er war in jungen Jahren Sekretär des Schöpfers
des modernen Italien, des Grafen Cavour, gewesen. Cavour hatte zwei
Sekretäre, Artom für die italienische, Blanc für die französische Sprache
und Korrespondenz. Cavour selbst beherrschte gleichmäßig beide Sprachen.
Blanc erzählte mir mancherlei über die Arbeitsmethode seines Chefs, der sehr
spät aufstand, aber dafür von Mitternacht bis zum Morgen zu arbeiten
pflegte. Cavour verlangte von seinen Untergebenen gespannte Auf-
merksamkeit, unermüdliche Arbeitskraft und unbedingte Diskretion, war
aber immer gleichmäßig höflich, nie launisch oder heftig. Blanc glaubte
nicht, daß Cavour sein Amt mit der bestimmten Absicht angetreten habe,
ein einiges Italien vom Monte Rosa bis zum Kap Passaro möglichst bald
ins Leben zu rufen. Sein nächstes Ziel sei nur die Befreiung Öberitaliens
von der österreichischen Fremdherrschaft gewesen. Als der von
Napoleon lII., der nach Solferino die Nerven verloren hatte, übereilt ab-
geschlossene Waffenstillstand von Villafranca diesen Plan durchkreuzte,
habe CGavour in Toskana, Parma, Modena und in den päpstlichen Le-
gationen Aufstände angezettelt und sie benutzt, um diese Gebiete mit dem
Königreich Sardinien zu vereinigen, nachdem der piemontesische General
Cialdini im September 1860 die von dem französischen General Lamoriciere :
geführten päpstlichen Truppen geschlagen hatte.
Blanc gab mir gegenüber wiederholt der Überzeugung Ausdruck, daß
Cavour Jdie Annexion des Königreichs beider Sizilien wie des Patrimoniums
Petri nicht so bald in Aussicht genommen habe, wie sie später erfolgt sei.
Cavour hatte noch im Spätherbst 1860 zu Blanc geäußert, der eigentliche
Kirchenstaat und der italienische Süden seien infolge jahrhundertelanger
Mißwirtschaft der päpstlichen Regierung wie der Bourbonen wirtschaftlich
und moralisch so sehr zurückgeblieben, daß es noch zu früh sei, sie mit dem
besser verwalteten und erheblich höher stehenden Nord- und Mittel-
Italien zu vereinigen. Zu früh mit dem übrigen Italien verschmolzen,
würden sie ansteckend und demoralisierend auf den italienischen Gesamt-
körper wirken. Die feurige Ungeduld und die Kühnheit von Garibaldi
nötigten Cavour, weiter zu gehen. So sah auch der größte italienische
Staatsmann, einer der größten Staatsmänner aller Zeiten, kaum drei
Monate vor seinem Tode die ganze Halbinsel bis auf Venetien und das Ge-
biet um Rom unter dem Szepter seines Königs vereinigt. Am 17. März1861
wurde Viktor Emanuel II. zum König von Italien proklamiert. Am 6. Juni
1861 starb Cavour. Glücklicher als Moses, erblickte er das gelobte Land,
nach dem seine Seele sich sehnte, noch mit leiblichen Augen. Zu den sein
Sterbebett umgebenden Freunden meinte er: „La cosa va, e l’Italia.‘“
Ich kann mich noch wohl des Eindruckes erinnern, den der Tod von Cavour
Camillo
Cavour