660 „AVIS AU LECTEUR“
Enthusiasmus gesehen! Nun heißt es oft, den Italienern sei politisch nicht
zu trauen. Was halten Sie davon ?“
Ich: „In der Politik gibt es kein unbeschränktes, kein absolutes Ver-
trauen. Den Italienern ist ebensogut, ebensoviel und ebensowenig zu
trauen wie den Russen, Engländern, Franzosen, wie allen anderen Völkern.
Unter den Großmächten geht es nicht so zu wie im Regimentskasino unter
Kameraden. Es wird von unserer Politik abhängen, wie sich Italien zu
uns stellt.‘
Der Kaiser: „Die Italiener haben 1870 die Franzosen im Stich gelassen,
mit denen sie vorher einen Vertrag abgeschlossen hatten. Würden sie das
mit uns ebenso machen ?“
Ich: „Als die Franzosen 1870 mit Gramont und Ollivier ungeschickt und
blind in den Krieg stolperten, haben die Italiener das benutzt, um sich
von ihrer Allianz mit den Franzosen loszulösen. Wenn wir eine Dummheit
machen sollten, wird es uns ebenso ergehen. Francesco Guicciardini, der
italienische Historiker, der sich schon in jungen Jahren in seiner Vater-
stadt Florenz einen großen Ruf als Rechtslehrer erworben hatte und später
den Päpsten Leo X., Clemens VII. und Paul III. als Diplomat gute Dienste
leistete, schreibt in seiner Istoria d’Italia: ‚Pregate Dio di trovarvi sempre
dove si vince.* (Bittet Gott, daß ihr euch immer auf der Seite befindet, wo
man siegt.) Der Vater des modernen Italien, Graf Camillo Cavour, nannte
die Istoria d’Italia seine politische Bibel. Ich darf auch an das erinnern,
was Fürst Bismarck in sciner letzten großen Rede am 6. Februar 1888 über
Natur und Wert von Allianzen gesagt hat.“
Der Kaiser (der nicht liebte, an Bismarck erinnert zu werden, mit Stirn-
runzeln): „Das soll wohl ein Avis au lecteur für mich sein? Nun, ich nehme
es Ihnen nicht übel, aber seien Sie sicher, daß ich keine Dummheiten
machen werde. Was halten Sie von König Humbert? Mir ist er ungemein
sympathisch. Was halten Sie von der Königin Margherita? Ich schwärme
für sie.“
Ich: „König Humbert ist eine durch und durch vornehme Natur. Jeder
Zoll ein Ritter: Furchtlos, großzügig, freigebig. Die Königin hat kein anderes
Interesse als den Ruhm und die Ehre ihres Landes und ihres Hauses. Sie
verkörpert sozusagen die italienische Staatsräson, und das mit Geist
und Grazie.“
Der Kaiser: „Halten Sie die Königin für unsere Freundin ?“
Ich: „So lange sie diese Freundschaft mit den italienischen Staats-
interessen für vereinbar hält — ja.“
Der Kaiser besuchte mit mir die Gräfin Annina Morosini, die er ein
Gräfin Jahr vorher, als er sie in Rom kennenlernte, die schönste Frau Italiens
Morosini genannt hatte. Sie bewohnte in Venedig ein historisches Palais, die CA