ITALIEN UND FRANKREICH 661
Doro, den zierlichsten venezianischen Palazzo gotischen Stils. Die Be-
wunderung des Kaisers für die Gräfin war allgemein bekannt. Aber nichts
wäre irriger, als zu glauben, daß ihr Wilhelm II. den Hof gemacht habe
in dem Sinne, wie dies die böse Welt versteht. Die Gräfin hat mir selbst
erzählt, daß, wenn sie allein mit dem Kaiser war, die Unterhaltung sich
hauptsächlich um die herrliche Erscheinung seiner Gemahlin, der Kaiserin,
drehte und um die Vorzüge seiner sieben Kinder. Und sie sagte mir sicher-
lich die Wahrheit. Der Kaiser hatte der schönen Venezianerin ein Neues
Testament in italienischer Übersetzung geschenkt und sie mit rührendem
Eifer ermahnt, jeden Abend vor dem Einschlafen darin zu lesen. Alles
Frivole lag Wilhelm II. ganz fern. Zu mir war er in jenen Tagen von großer
Liebenswürdigkeit. Es machte ihm Freude, mir persönlich den Stern zum
Roten Adlerorden zu übergeben mit den humoristischen Worten: „Das ist
nur ein kleiner Anfang. Es wird noch viel mehr dahinter kommen.“
Vierzehn Tage nach der Begegnung von Venedig hörte ich aus guter
Quelle, daß Crispi und Blanc während der Zusammenkunft der Souveräne
den Finanzminister Boselli, wegen seiner kleinen Figur „Bosellino““ ge-
nannt, zum französischen Botschafter gesandt hätten, um ihm zu sagen,
daß die Entrevue mit dem Deutschen Kaiser keinerlei Spitze gegen Frank-
reich trage. Die Liebe der Italiener für Frankreich, die lateinische Schwester,
die Alliierte von Magenta und Solferino, sei und bleibe die alte. Fast vier-
hundert Jahre früher hatte Papst Clemens VII., ein Sohn des klugen
Hauses Medici, an seinen Nunzius in Wien schreiben lassen, ein Staats-
mann müsse, wie ein Schiffer, mehr als einen Anker bereit halten. Wenn
Österreich siege, wolle der Papst in Wien ankern, „aber nie zu fest“. Wenn
Frankreich die Oberhand gewinnen sollte, werde der Pontifex mit den Fran-
zosen gehen. Boselli lebt noch. Er hat seitdem verschiedene Ressorts ver-
waltet, gewissenhaft und geschickt. Er hat manche Wandlung der italie-
nischen Politik erlebt und mit Würde mitgemacht. Bei feierlichen Gelegen-
heiten wurden ihm gern Ansprachen an den König und die Redaktion
öffentlicher Kundgebungen übertragen. Er unterzieht sich solchen Auf-
gaben mit bemerkenswertem Takt.
Der italienische Hof war gut gehalten. Der König verfügte in Rom und
in Turin, in Florenz und in Neapel, in Venedig, Mailand und Palermo über
Paläste, die zu den schönsten der Welt gehören. Die Hofhaltung war vor-
nehm und glänzend. Die Hofleute waren liebenswürdig, in keiner Weise
steif oder gar überheblich. Sie waren ohne jeden politischen Einfluß. Seit
Cavour wurde streng darüber gewacht, daß die Hofleute sich auf ihre
höfischen Funktionen beschränkten. Der Souverän durfte auch keine
Freunde haben, keine unverantwortlichen Ratgeber. Ein Phili Eulenburg,
ein Max Fürstenberg, die als persönliche Freunde des Monarchen einen
Der Hofstaat
Humberts