Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Der König 
und der 
Radikale 
Fortis 
Hofchargen 
662 KEINE ANTICHAMBRE 
erheblichen Einfluß ausübten, ohne imstande zu sein, vor der Volks- 
vertretung Rede und Antwort zu stehen, ohne die Kenntnisse, die Arbeits- 
kraft und die Gewissenhaftigkeit zu besitzen, die erforderlich sind, um ein 
ministerielles Ressort leiten zu können, wären in Italien nicht denkbar 
gewesen. Cavour hat, als eine Hofdame vor ihm über die vielen Nachteile 
des parlamentarischen Systems geklagt hatte, ihr geantwortet: „La plus 
mauvaise chambre vaut mieux que l’antichambre.‘“ Der erste General- 
adjutant des Königs Humbert, der General Ponzio Vaglia, war ein 
schlichter, tüchtiger Soldat, seinem Herrn absolut ergeben, ohne jede 
politische Ambition. Er erzählte mir gelegentlich, daß er den König Hum- 
bert einmal auf einer Reise durch die Romagna begleitet habe, wo seit 
jeher radikale Tendenzen stark vertreten waren, sozialistische wie republi- 
kanische. Als sie in Forli eintrafen, forderte der König den General Ponzio 
Vaglia auf, sich in einen andern Wagen zu setzen, da er den Sindaco von 
Forli, Herrn Fortis, zu sich in den Wagen nehmen wolle. Fortis war da- 
mals einer der Führer der Radikalen in der Romagna, er gab sich als 
Republikaner. Nach seiner Aussprache mit seinem Souverän wurde er 
Unterstaatssekretär. Alessandro Fortis hat es später zum Minister und 1906 
sogar zum Ministerpräsidenten gebracht. Wenn ich mich nicht irre, hat er 
mich als solcher in Berlin besucht. Als Botschafter in Rom habe ich mich oft 
mit ihm unterhalten. Er war ein gewandter und aufgeweckter Politiker, in 
keiner Weise verbohrter Prinzipienreiter. Es ließ sich gut mit ihm reden. 
Er ist bald nach meinem Rücktritt vom Reichskanzleramt im Dezember 1909 
in Rom gestorben. Alle italienischen Politiker rühmten mir die Feinheit 
und Vorurteilslosigkeit, mit der es das Haus Savoyen seit jeher verstanden 
habe, sich den Umständen anzupassen, mit dem richtigen, dem ihm 
günstigen Wind zu segeln, aus jeder Lage das Mögliche herauszuholen 
und das Beste zu machen und auf diese Weise für Dynastie und Mon- 
archie Anhänger zu werben und Kräfte zu gewinnen. So habe Viktor 
Emanuel II. Garibaldi, so habe er Depretis, Nicotera, Crispi, Zanardelli 
der Monarchie zugeführt und selbst mit Mazzini eine gewisse Fühlung ge- 
halten. König Humbert hielt an dieser Tradition und Taktik fest. 
Die Stellung des Palast-Präfekten entsprach der Stellung, die am Berliner 
Hof der Oberhofmarschall einnahm. Der Oberstallmeister Corsini gehörte 
einer großen Familie an, aus der Papst Clemens IlI. hervorgegangen war, 
dem der Versuch mißlang, die griechische Kirche wieder mit der römischen 
zu vereinigen, der dafür aber den Palazzo Corsini erbaute und dessen herr- 
lichen Garten anlegte. Als ich im Winter 1874/75 zum erstenmal in Rom 
weilte, war dieser Garten noch nicht dem Publikum geöffnet. Als ich 1894 
als Botschafter nach Rom zurückkehrte, suchte ich bei meiner ersten 
Spazierfahrt mit meiner Schwiegermutter die Passegiata Margherita auf,
	        
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