Mü
Wilhelm II.
in Neapel
XLIX. KAPITEL
Besuch des Kaisers in Süditalien - Besteigung des Vesuv - Begegnung mit Kardinal
Sanfelice, Erzbischof von Neapel » Die päpstliche Diplomatie, Kardinäle und
Prälaten »- Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag und Fürst Bismarck « Die
Kretische Frage - Die Nachfolge des Staatssekretärs Marschall - Besprechungen mit
Phili Eulenburg in Meran und Venedig - Korrespondenzen mit Berlin + Ungewißheit
und Unsicherheit bis zur endlichen Entscheidung
ährend des Besuches, den Wilhelm II. bald nach dem Rücktritt von
Crispi Süditalien abstattete, bin ich Seiner Majestät zum erstenmal
nähergetreten. Der Kaiser lernte mich kennen und ich ihn. Meine Eindrücke
waren widerspruchsvoll, was ich ex post verstehe, denn Wilhelm II. war
wohl der unausgeglichenste Mensch, dem ich begegnet bin. Man kam ihm
gegenüber schwer zu einem sicheren und endgültigen Urteil. Als wir in
Neapel die Zoologische Station des ausgezeichneten Gelehrten und
liebenswürdigen Menschen Anton Dohrn besuchten, erstaunte uns der
Kaiser durch seine rasche, leichte Auffassung und durch die geistreiche
Art, wie er sein Interesse für Biologie zum Ausdruck brachte.
Darin wie in manchem andern war er der Sohn seiner Mutter, die
auch für alles Interesse hatte und über alles Vorträge hielt, de omnibus
rebus et quibusdam aliis. Nur mit dem Unterschied, daß sie ihr Wissen,
zum Beispiel über Zoologie oder Botanik, über alle Zweige der Wissen-
schaft, die sich mit den organischen Naturkörpern beschäftigt, in be-
scheidenem Ton an den Tag legte, mit leiser Stimme und mit gesenkten
Augen, der Kaiser laut und triumphierend. Zur Kaiserin Friedrich hatte
ihr sehr gebildeter Vater, der Prince Consort, als sie noch ein Kind
war, gesagt: „Die Zeiten sind vorüber, wo die Prinzen und Fürsten
behaupten konnten, daß sie durch höhere Eingebung alles verstünden
und sogar besser verstünden als die übrige Menschheit, wo Kaiser
Siegismund, auf einen grammatikalischen Fehler aufmerksam gemacht,
den er sich hatte zuschulden kommen lassen, auf dem Konzil von
Konstanz hochmütig erwiderte: Caesar supra grammaticam! In unserer
Zeit muß ein Fürst durch gute Lehrer und eigenen Fleiß es dahin bringen,
daß er auf allen Gebieten und in allen Richtungen es anderen zuvortut.“