Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE DEKORIERTE SCHILDWACHE 677 
Kaiser Wilhelm II. war überzeugt, daß die eigene, zweifellos große Be- 
gabung, verbunden mit der Eingebung und Hilfe von oben, ihn instand 
setzte, alles zu kennen und alles zu können. 
Bald nachdem Kaiser Wilhelm II. uns durch einen längeren Vortrag 
über die Lehre vom Leben, insbesondere über Zoologie, mit Bewunderung 
erfüllt hatte, entsetzte er den guten Dohrn und mißfiel mir in hohem Grade, 
indem er uns erklärte, daß er grundsätzlich jede Schildwache dekoriere, 
die den Passanten, der auf Anruf nicht gleich stillstehe, sofort niederschieße. 
Solche Auslassungen, deren ich später noch manche ähnliche gehört habe, 
waren nicht der Ausfluß einer grausamen Natur. Wilhelm II. hatte gar 
nichts von einem Nero oder von Dionys, dem Tyrannen von Syrakus, zu 
dem Damon schlich, den Dolch im Gewande. Er war vielmehr im Verkehr 
das, was man so einen guten Kerl nennt. Solche Exzesse in Worten waren 
auch nicht ein Zeichen jener Brutalität, die Peter dem Großen, die Kaiser 
Nikolaus I., die dem großen Napoleon vorgeworfen werden konnte, wo sie 
der Ausdruck gewaltiger, abnormer Energie waren. Bei Wilhelm II. waren 
sie das Symptom einer neurasthenischen Natur. Es fehlte Wilhelm II. wie 
an ruhigem Mut so auch an wirklicher Kraft. Er suchte deshalb durch 
Worte und Gesten den Eindruck eines Heros zu erwecken. Dabei vergriff 
er sich nicht selten in den Mitteln. 
Nachdem er die Zoologische Station in Neapel besichtigt hatte, bestieg 
der Kaiser, begleitet von mir und einigen Herren, den Vesuv. In seinen 
hübschen Memoiren erzählt Graf Beugnot, daß er im Frühjahr 1813, 
damals leitender Minister des von Napoleon kreierten Großherzogtums 
Berg, mit dem Kaiser und dem Präfekten von Mainz, einem früheren 
Conventionnel, der Jean-Bon Saint-Andre hieß, eine Kahnfahrt bei Biebrich 
unternommen habe. Während der Fahrt habe Napoleon, in Gedanken 
versunken, ins Wasser geblickt. Außer dem Kaiser, dem Präfekten und 
Beugnot war niemand in dem Kahn. Da sagte der Konvents-Deputierte, 
über den der Geist von 1793 kam, der Geist der Terreur, leise zu Beugnot: 
„Quelle etrange position! Le sort du monde depend d’un coup de pied de 
plus ou de moins.““ Als die Kahnfahrt zu Ende war, machte Beugnot dem 
Präfekten Vorwürfe über seine Boutade: „Savez vous que vous m’avez 
furieusement effray&?! Vous &tes un insense!“ Der alte Terrorist ant- 
wortete: „Et vous un imbecile. Tenez-vous pour dit que nous pleurerons 
des larmes de sang que cette promenade de l’Empereur n’ait pas ete la 
derniere.‘‘ Als wir mit Wilhelm II. vor dem Krater des Vesuv standen, aus 
dem heiße Dämpfe und Gase aufstiegen, hörte ich einen der Herren seinem 
Nachbarn zuflüstern: „Wenn dieser liebenswürdige, charmante Mensch, 
aber inkohärente und höchst gefährliche Regent jetzt einen Schwindelanfall 
bekäme und in den Krater fiele, wie wären wohl die Folgen ?“ 
Am Krater 
des Vesuv
	        
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