684 „JÜRG JENATSCH“
Pflicht gegenüber dem König wäre, dessen Gegner und Feinde als meine
eigenen zu betrachten und zu behandeln, und König Wilhelm II. habe
zur Zeit keine gefährlicheren und dabei ruchloseren Feinde als den Fürsten
Bismarck, den „bösen alten Mann“, und dessen Sohn, den „gräß-
lichen“ Herbert. Die abscheulichen hoch- und landesverräterischen Ent-
hüllungen der „Hamburger Nachrichten“ über den perfiden Rückversiche-
rungsvertrag hätten begreiflicherweise den berechtigten Zorn Seiner Majestät
noch erhöht. Als ich fest blieb, meinte Eulenburg schließlich seufzend:
„Der Kaiser ist so sehr auf dich versessen, daß er selbst deinen mir ja auch
im höchsten Grade antipathischen Bismarck-Kultus schlucken wird.“
Dieses Hinundherreden dauerte vom Morgen bis zum Abend, nur
unterbrochen durch das Vorlesen einiger nordischer Balladen, die Phili in
der letzten Zeit gedichtet hatte. Ich habe immer die Gewohnheit gehabt,
bei bewegter Gemütsstimmung nach einem guten Buch zu greifen, um
meine Gedanken abzulenken und, wie Homer das nennt, der Seele Unruhe
zu zerstreuen. Als ich einundzwanzig Jahre vorher in Florenz nach dem,
was mir mein Chef, Herr von Keudell, über die Abneigung der Kron-
prinzessin gegen meinen Vater und gegen mich mitgeteilt hatte, mit jugend-
licher Impressionabilität an meiner diplomatischen Zukunft zweifelte,
hatte ich nach Balzac gegriffen. Ich habe später, während der langen und
schwierigen Zolltarifdiskussionen, mich abends in Lamartines etwas zu
lyrische, aber doch packende „Histoire des Girondins“ vertieft. Die tra-
gische Größe der Revolutionsgestalten, der Vergniaud, Danton, Saint-
Just, tröstete mich über die lederne Spießbürgerlichkeit der Philister, mit
denen ich um Zolltarifpositionen zu feilschen hatte. In Meran las ich jetzt
„Jürg Jenatsch“‘ von Conrad Ferdinand Meyer. Der mit meisterhafter
Psychologie geschriebene Roman des großen Schweizers, einer der besten
Romane der an guten Romanen bis heute nicht reichen deutschen Literatur,
hob mich über die Schwierigkeiten des Augenblicks, stärkte meinen Mut,
mich in eine neue Welt zu wagen, ihr Weh, ihr Glück zu tragen, und
schärfte auch mein Verständnis für die Beweggründe, von denen sich
Phili leiten ließ. Er war herzlich erfreut gewesen, als der damals innig mit
ihm befreundete Holstein meine Versetzung nach Rom durchgesetzt hatte,
teils aus wirklicher Freundschaft für mich, teils weil ich ihm als Pacemaker
für Wien dienen sollte. Mit meinem Aufstieg zum Reichskanzler war er
später viel weniger einverstanden. Hohenlohe-Langenburg wäre ihm als
Reichskanzler lieber gewesen, schon weil in diesem Falle Straßburg für ihn
frei geworden wäre. Meine Ernennung zum Staatssekretär hat Eulenburg
mit jedem denkbaren Nachdruck betrieben. Gerade an dieser Stelle wollte
er einen Freund haben, jedenfalls keinen Feind. Marschall war ihm per-
sönlich nicht besonders sympathisch, doch würde er sich, wie sein Kumpan