LANDTAG IN MECKLENBURG 57
die Kultur, die alle Welt beleckt, sich, wenn auch schüchtern, bis Neu-
Strelitz gewagt. Zwar die Verfassungszustände in Mecklenburg waren noch
recht verschieden von denen im übrigen Deutschland. Mecklenburg erfreute
sich einer mittclalterlich-feudalen Verfassung und war deshalb die Böte
noire des deutschen Liberalismus. — In Wirklichkeit urteilte der Liberalismus
hier wie in manchen anderen Fällen nach abstrakten Theorien, an die er so
starr glaubt wie Buchstaben-Christen an ihre Dogmen. Einer der bekann-
testen Staatsrechtslehrer der fünfziger Jahre hatte dagegen die Behauptung
aufgestellt, Mecklenburg habe die beste Verfassung in Deutschland. Auch
mein Vater war ein Freund und Verteidiger ständischer und korporativer
Vertretung. Ich selbst habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich in der
Politik nicht an Dogmen glaube. Ich sei kein Fetischanbeter und triebe
keinen Götzendienst, sagte ich einmal im Reichstag. Gegenüber Friedrich
Naumann, der ein Doktrinär vom reinsten Wasser war und den Glauben
an Dogmen aus seiner Pastorenzeit in die Politik mitgebracht hatte, wies
ich darauf hin, daß die Wohlfahrt und die Freiheit eines Landes nicht aus-
schließlich oder auch nur überwiegend abhinge von der Form seiner Ver-
fassung oder gar von seinem Wahlrecht. „Glauben Sie wirklich‘, frug ich,
„daß das von dem Abgeordneten Naumann so sehr perhorreszierte Mecklen-
burg viel schlechter regiert wird als das ganz demokratische Haiti?‘“*
Mein Vater wohnte in jedem Jahr den Sitzungen des mecklenburgischen
Landtags bei, der sich abwechselnd in Malchin und in Sternberg
versammelte. Ich lernte auf diese Weise beide Städtchen kennen, da ich
meinen Vater in dem einen wie in dem anderen Ort gelegentlich besuchen
durfte. Malchin lag an einem anmutigen See, in einer hübschen Gegend, die
der gute Mecklenburger nicht ohne Stolz „die Mecklenburgische Schweiz“
nennt. Sternberg besaß eine im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
erbaute, der heiligen Maria und dem heiligen Nikolaus geweihte Kirche,
ein schöner, dreischiffiger, frühgotischer Hallenbau. In der Turmhalle der
Kirche ist ein Fresko zu bewundern, das einen in der Reformationszeit an
der Sagsdorfer Brücke bei Sternberg abgehaltenen mecklenburgischen
Landtag darstellt. Die Freske ist umrahmt von den Wappen der ein-
geborenen mecklenburgischen Familien, darunter auch die vierzehn Kugeln
des Bülowschen Wappens. „Vierteyn Klümp in enen Schapen, Seyn dat
reckte bülowsch Wapen‘“ lautet ein alter Spruch im Lande Mecklenburg.
Das jetzt so friedliche Städtchen Sternberg war leider im Mittelalter der
Schauplatz einer schaurigen Freveltat geworden. In der Stadt war das
Gerücht verbreitet worden, daß Juden sich der „Marterung‘‘ von Hostien
schuldig gemacht, d.h. Hostien mit einer Nadel durchstochen hätten.
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe III, S. 127; Kleine Ausgabe V, S. 59.
Malckin
und
Sternberg