DER BLINDE KÖNIG 61
gering angeschlagen werden. Um fünf wird das kleine und nach glücklich
vollbrachter Tagesarbeit endlich das große Abendbrot eingenommen. Nicht
mit Unrecht heißt es aber: ‚Was der Mensch ißt, das ist er.“ Die Mecklen-
burger waren und sind ein tüchtiger Menschenschlag, nicht gerade von
beweglichem Geist, aber von tiefem Gemüt, klare Köpfe, Menschen von
ruhigem Urteil. Sie sind, wie der Apostel Jakobus seinen lieben Brüdern
empfiehlt, langsam zum Reden und langsam zum Zorn. Aber sind sie in
Zorn geraten, so flutschen ihre Hiebe.
Mecklenburg ist die Heimat von Gebhard Lebrecht von Blücher und
Hellmuth von Moltke, beide Söhne eingeborener, uradliger Familien, von
Johann Heinrich Voß und Adolf Wilbrandt. Zu einer mecklenburgischen
Deputation, die ihm 1893 in Friedrichsruh huldigte, sagte Fürst Bismarck:
„Ich habe als brandenburgischer, als altmärkischer Nachbar des mecklen-
burgischen Landes und demnächst als preußischer und Reichsbeamter mit
vielen Mecklenburgern Beziehungen gehabt und habe sie als hervorragend
an Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit gefunden. Da sind vor allem die Bülows
und die Bernstorffs, die wir in unserem Militär- und Zivil-Dienst gehabt
haben und die sich wie ein roter Faden durch dieses gesegnete Land zwischen
Elbe und Ostsee ziehen.“
Der Großherzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Strelitz war blind.
Dieses Schicksal teilte er mit seinem Vetter und Freund, dem König
Georg V. von Hannover, nur mit dem Unterschied, daß der Großherzog
seine Blindheit in keiner Weise versteckte, während der König hartnäckig
den Schein aufrechtzuerhalten suchte, als ob er sehen könne. Georg V.
liebte es, Damen, denen er begegnete, Komplimente über ihre Toilette zu
machen. „Sie haben ein schönes gelbes Kleid an!“ oder „Das rote Kleid
steht Ihnen heute besonders gut.‘ Natürlich mußte ihm der ihn begleitende
Adjutant zuflüstern, wer die Dame sei, der er begegnete, und wie sie an-
gezogen wäre. Trotz dieser Schwäche war der letzte König von Hannover
kein unedler Mann. Aussehen und Auftreten waren königlich, er war hoch-
herzig und freigebig, aber er hatte einen überspannten und mystischen
Begriff von seiner Würde und von seinem Beruf. Der Freiherr Ernst von
Hammerstein-Loxten, von 1897 bis 1901 preußischer Landwirtschafts-
minister, der in seiner Jugend der näheren Umgebung des Königs Georg V.
angehörte, hat mir mehr als einmal gesagt, daß trotz großer Verschiedenheit
in vielen Dingen Kaiser Wilhelm II. in der eigenartigen, jedenfalls gar nicht
friderizianischen Auffassung seiner Herrscherpflicht ihn an seinen früheren
Herrn, den König Georg V., gemahne. Beide neigten zur Hybris. Wilhelm II.
versicherte seinen Brandenburgern, er werde sie herrlichen Tagen entgegen-
führen. König Georg erklärte, nicht lange bevor er den Thron verlor, die
Welfenherrlichkeit werde dauern bis an das Ende aller Tage.
Großherzog
Friedrich
Wilhelm