Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

IN FRANCKES HAUS 13 
werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.“ Im Geiste dieses 
Bibelspruchs hatte der 1663 in Lübeck geborene, 1727 in Halle verstorbene 
August Hermann Francke 1698 seine Stiftung ins Leben gerufen, ein Werk, 
dem im ganzen Bereich der evangelischen Kirche kein zweites gleichkommt. 
Als er einmal in der an seiner Wohnung angebrachten Armenbüchse sieben 
Gulden fand, meinte er hocherfreut: „Das ist ein ehrlich Kapital, davon 
muß man was Rechtes stiften!“ Er fing damit an, eine Armenschule zu 
begründen. Weil aber zum Unterricht auch die Erziehung treten müsse, 
faßte er den Gedanken eines Waisenhauses, zu dem 1698 der Grundstein 
gelegt wurde und das den Kern bildete, um den sich alles übrige kristalli- 
sierte: zwei Gymnasien, das Königliche Pädagogium und die Lateinische 
Hauptschule, eine Realschule, eine Töchterschule, eine Bürger- und eine 
Freischule, die große Cansteinsche Bibelanstalt, aus der die Bibel stammt, 
die ich zu meiner Konfirmation erhielt und die ich noch heute benutze, eine 
Mission, eine Buchhandlung, Apotheke usw. Das Haus, in dem das Pädchen 
untergebracht war, stammte aus der Franckeschen Zeit und war ein 
tüchtiger, unverwüstlicher Fachwerkbau. Vor dem Pädagogium stand das 
von Rauch modellierte Erzbild des Glaubenshelden Francke. Aus dem 
Pädagogium waren der fromme Stifter der Brüdergemeinde, Graf Nikolaus 
Zinzendorf, und der weniger fromme Dichter Gottfried August Bürger, der 
Oberpräsident von Westfalen Vincke, einer der besten preußischen Be- 
amten aller Zeiten, hochverdient um die Erhebung Preußens nach Jena, 
der Universitätskanzler Niemeyer, Schüler und später Direktor der 
Franckeschen Stiftungen, die Dichter Albert Knapp, Houwald und 
Göcking hervorgegangen. 
An der Spitze des Pädagogiums stand der Direktor Kramer. Er war 
der Schwiegersohn des Schöpfers der vergleichenden Erdkunde, Karl 
Ritters. Er war ein gewissenhafter und gerechter Lehrer und Leiter, aber 
es war ihm nicht gegeben, in ein näheres Verhältnis zu seinen Schülern zu 
treten, ihre Herzen zu erschließen und zu gewinnen. Mein Verhältnis zu 
ihm blieb kühl vom Tage meiner Aufnahme in das Pädchen bis zu meinem 
Austritt. Schon das Hüsteln und Räuspern, mit dem Kramer jeden von 
ihm gesprochenen Satz begleitete, schien Intimität abzuwehren. In der 
Hand trug er meist ein goldgefaßtes Augenglas, das ihm etwas Distin- 
guiertes, aber auch etwas gab, was Vertraulichkeit entfernte. Wie sein 
Schatten folgte ihm ein behäbiger Mann im blauen Frack mit blanken 
Knöpfen, der Schuldiener Küniger, der das schönste Sächsisch sprach, das 
ich außer aus dem Munde des Königs Friedrich August III. je gehört habe. 
Unser Ordinarius Dryander war ein waschechter Philologe. Er entstammte 
einer alten Hallenser Gelehrten-Familie, die ihren ursprünglichen Namen 
„Eichmann“ gräzisiert hatte, Aus ihr ging auch der in allen Lebenslagen 
Direktor 
Krarner
	        
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